Videoanalyse

In den Sozialwissenschaften wird seit etwa 35 bis 40 Jahren mit Videoaufnahmen Forschung betrieben. Allerdings stellt dieser Zugang zur Realität für fachdidaktische Forschung – konkreter in den Fachdidaktiken Politikunterricht und Sozialwissenschaftlichem Sachunterricht – noch einen „blinden Fleck“ dar. Daher sollen an dieser Stelle zumindest einige methodologische Hinweise zum Umgang mit audiovisuellem Material gegeben werden (1). Videoaufnahmen von Unterricht zeichnen sich, ebenso wie Film- und Fernsehaufnahmen, durch eine komplexe Kombination von Text, Bild und Ton aus, die es zu beachten gilt. Erster Schritt ist die breite Sammlung von Daten (Unterrichtsdokumentationen), die unter spezifischen Fragestellungen weiter gefiltert werden. Zentrale Definitionen und Fragestellungen werden – nach Literaturrecherchen – eingeführt. Damit sind (forschungs-)ethische Fragen tangiert (2). Weiterhin erfolgt eine „Übersetzung“ des Ausgangsmaterials in Transkripte (3). Auch Gadamer argumentiert mit der Analogie der Übersetzung, um die hermeneutische Methode zu erklären (vgl. 1999, 282ff.). Daraus folgt, dass es nicht eine „single truth“ (Rose 2000, 246) bei der Analyse von Texten geben kann. Der Ausdruck „Texte“ steht hier generell für soziale Untersuchungsgegenstände (4). Transkripte stellen die erste Interpretation dar. Zwischen „Text“ und Interpret*in spielt sich dialogisch eine Interaktion ab. Dafür wurden Regeln und Verfahren aufgestellt. Der Prozess der Rekonstruktion bringt keine einfache Kopie des Ausgangsmaterials hervor. Es existieren unterschiedliche Transkriptionsregeln und -systeme; ob dabei die Berücksichtigung von Pausen, Verzögerungen beim Sprechen „wahrer“ sind als einfache Wort-für-Wort-Protokolle bleibt offen. Andere fokussieren die non-verbale Dimension der Kommunikation. Hier sind begründete Entscheidungen erforderlich, die sich am Zweck der Analyse und am Kontext des Materials orientieren. Legt man z.B. Wort-für-Wort-Protokolle zugrunde, so impliziert dies, dass die sprachliche Dimension für die Lernkultur des spezifischen Faches von zentraler Bedeutung ist. Damit sind andere Perspektiven nicht ausgeschlossen, erfordern aber eine analoge Begründung. Notwendig verbunden mit der Übersetzung ist eine doppelte Veränderung: zum einen stellt jedes Transkript eine Vereinfachung gegenüber dem Ausgangsmaterial dar; die Komplexität von Fachunterricht kann niemals reproduziert werden. Zum Zweiten liegt aber auch eine Anreicherung vor, insofern fachdidaktische Interpretationen über das Material hinausgehen (5). Die Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung stellen die Leser*in von Forschungsberichten vor das Problem, die skizzierten Schritte „nach zu denken“. Das geht nur, wenn die Entscheidungen transparent gemacht werden: „The question then is to be explicit as possible [Hervorhebung – H.W.K.] about the means that have been used fort he various modes of translation and simplification“ (Rose 2000, 247). Transparenz im Verfahren ermöglicht es der Leser*in, die Entscheidungen selbst nachzuvollziehen und zu bewerten. Damit können weitere Lesarten generiert werden (6).
Die Dokumentation von Unterricht mit Hilfe von Videoaufzeichnungen widerspricht unseren Sehgewohnheiten fundamental: wir sehen dramatische oder lustige Filme, mehr oder weniger spannende Fußballspiele, Krimis, schnell geschnittene Videoclips – aber keine langatmigen Unterrichtsstunden mit Stillarbeits- und Gruppenphasen – alles quasi in „Echtzeit“. Das beginnt bei der Hospitation im Praktikum, wird aber durch eine Videodokumentation erheblich gesteigert: man ärgert sich über den schlechten Ton, die eingeschränkte Kameraperspektive, der*die didaktisch unfähige Lehrer*in, die unwilligen Schüler*innen. Die Mattscheibe schafft Distanz, das Sehen und Hören erfordert Geduld – ein mühsames Geschäft.
Die Zweifel an der Authentizität der „Praxis“ sind vielfältig:

  • die Objektivität der Dokumentation wird hinterfragt
  • Schüler*innen- und/oder Lehrer*innenverhalten gelten als untypisch
  • Schnell erfolgt eine Lehrerschelte, vielfach gekoppelt mit der Solidarisierung mit den Schüler*innen
  • Die Beurteilungskategorien werden „intuitiv“, also ohne Reflexion und spontan angeheftet (7), in der Regel in Schwarz-Weiss-Manier: „guter“ oder „schlechter“ Unterricht
  • Auch wird das Arrangement kritisiert: die Kamera verzerre, vom Alltag bliebe nichts übrig.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Man könnte hier einen Punkt setzen und das didaktische Potential für Null erklären oder im negativen Bereich ansiedeln: Die gezeigte Praxis sei gar nicht die „Praxis“. Ohne dass man sich dem immer bewusst ist, befindet man sich schon „mitten“ im hermeneutischen Geschäft, wenn auch noch methodisch naiv. Dennoch scheint der „assoziative“ Umgang mit Videoaufzeichnungen nicht sinnlos. Die Verfremdung baut Barrieren auf, die überwunden werden können. Das erfordert Widerstand, Auseinandersetzung. Allerdings von beiden Seiten: Für den Lehrenden besteht die Versuchung, die Dokumentation lediglich als Illustration seiner Darstellungen zu nutzen, dann wirkt der Praxisbezug zufällig, auch wenn er als systematisch behauptet wird. Auch hilft eine vorweggenommene Interpretation des Dozierenden wenig. „Vorbildlich“ kann allenfalls der genaue Blick sein. Für die Studierenden ist per Video dokumentierter Unterricht notwendig immer „fremder Unterricht“, man könnte sagen: sogar wenn sie selbst als Lehrer*in agieren. Mit dem Blick von außen, der veränderten Stimme usw. baut sich Distanz auf. Das verfremdende Dokument bietet als Gesprächsanlass die Möglichkeit, eigene Vorstellungen von „gelungenem Unterricht“ zu formulieren. In diesem Fall hat man eine Folie, auf die man sich bezieht bzw. von der man sich abgrenzt. In der Lerngruppe entstehen meist hier schon unterschiedliche Sichtweisen, Ausgangspunkte für unterschiedliche Lesarten.

Analoges gilt für Transkripte. Wir lesen Tageszeitungen, Romane, Anzeigen usw., aber keine Wortprotokolle von Unterrichtsstunden. Wörtliche Rede fällt ab im Vergleich zur Schriftsprache. Wenn schon Textarbeit in der Schule als trocken und langweilig gilt, wie viel trockener und langweiliger können dann lange Passagen mit Lehrer*innen-Schüler*innen-Kommunikation sein. Transkripte bilden allerdings in der qualitativen Methodologie der Unterrichtsforschung die notwendige Datenbasis. Wie also damit umgehen? Auch hier greifen Bewertungen unmittelbar: der Interpretationsprozess wird in Gang gesetzt. Das Material wird als Beleg eigener Deutungen benutzt, auch wenn man sich vielfach schnell davon löst. Man ordnet ein, kategorisiert, sucht anschlussfähige Theoriekonzepte. In der Lerngruppe geschieht dies meist alles auf einmal. Positiv gewendet kann man feststellen: hier kommt doch die „Praxis“ in ihrer Komplexität zum Tragen, es kommt nur darauf an, den Umgang mit Transkripten zu „methodisieren“.
Beim Praktikum gibt es ein vergleichbares Ritual: die Praktikant*in, die den Unterricht geplant und durchgeführt hat, eröffnet die Nachbesprechung, die hospitierenden Mitpraktikant*innen geben ihr Feedback, dann folgen die Betreuer*innen von Schule und Hochschule. Unterstützt wird das Ganze durch vereinbarte Problemstellungen oder vorab fixierte Beobachtungsaufgaben.
Wie sieht der fachdidaktisch motivierte Umgang mit Videodokumentationen und Transkripten unter dem Anspruch des forschenden Lernens aus?
Es lassen sich zwei komplementäre Strategien unterscheiden:
– zum einen hilft eine begrenzte Beobachtung von vorab definierten Problemstellungen, um in der Hyperkomplexität von Unterricht (oder seiner Langatmigkeit) überhaupt etwas fachdidaktisch Relevantes zu „sehen“; traditionell stehen Fragen am Beginn von Wissenschaft und Forschung;
– zum zweiten kann begründet erwartet werden, dass „die Praxis“ ihre Fragen selbst liefert, konkret: dass jede Unterrichtsstunde soviel fachdidaktisches Material bereit hält, dass es lohnenswert erscheint, sich analysierend und deutend darauf einzulassen.

Die erste Strategie zielt tendenziell eher auf allgemeindidaktische und pädagogische Aspekte, die zweite erscheint tendenziell hermeneutischen Verfahren näher zu sein. Videoaufzeichnungen werden in den letzten Jahren verstärkt in der Kindheitsforschung und in der fachdidaktischen Forschung eingesetzt; auch PISA betreibt eine Videostudie zum Unterricht in den USA, in Japan und Deutschland.

In den letzten Jahren wurde die hermeneutische Arbeit ausgedehnt auf fächerübergreifende Fragestellungen, bei denen verschiedene Formate analysiert werden, etwa Musikvideos oder politische Songtexte (vgl. Kuhn/Gloe/Oeftering 2014, vgl. Kuhn 2019).

Allerdings gibt es zu Videoaufzeichnungen „kaum Beiträge in der Methodenliteratur“ (Huhn 2000, 185). Auch in diesem Kontext kann auf ‚Verfremdung’ als rotem Faden des Beitrages verwiesen werden: die technischen Fragen beim Videographieren führen zu methodischen Fragen (8).
Film- und Videobilder sind sofort verständlich, sie nähern sich der „Reproduktion von Realität“ an. Dem Genre Dokumentationsfilm wird zunächst die „angenommene Objektivität“ unterstellt: so ist es gewesen.
Videoaufzeichnungen speichern gleich-gültig; das Band kann beliebig vor- und zurückgespult werden, da es eine „blinde sequenzielle Speicherung“ enthält. Unserer Wahrnehmung ist es aber nicht gleichgültig, was wir „für wahrnehmen“. Das optische System ist noch vergleichbar, doch wir entscheiden in Bruchteilen von Sekunden, ob etwas interessant und wichtig ist (ebd. 186).

(1) Vgl. zum Folgenden auch: Rose 2000.

(2) Dazu zählt auch die Frage der Anonymisierung von Namen usw. sowie der Datenschutz.

(3) „Every step in the process of analysing audiovisual matgerials involves translation. And every translation involves decisions and choices.” (Rose 2000, 246)

(4) Vgl. dazu: Hitzler / Honer 1997: Sozialwissenschaftliche Hermeneutik; sie sprechen davon, dass die Sozialwissenschaften „textbedürftige Wissenschaften“ seien (vgl. 12).

(5) „There are cases where analysis exceeds the text, in both length and complexity“ (Rose 2000, 248).

(6) „… there will always be space for opposition and conflict. An explicit method provides an intellectual and practical open space where analyses can be debated“(Rose 2000, 248).

(7) Vgl. Der intuitive Blick (2002); wie wenig sich solche psychologisierende Rezeptliteratur als Grundlage für einen analytischen Zugriff in der Unterrichtsbeobachtung eignet, liegt nicht nur an der Redundanz der Aussagen, auch fehlt vielfach ein konkreter Kontext, der zumindest Übertragungen erlauben würde.

(8) Vgl. zum Folgenden: Huhn 2000, 185ff.

 Literatur:

  • Bartels, Matthias 2002: Der intuitive Blick. Die Kunst der spontanen Wahrnehmung, Krummwisch.
  • Dinkelaker, Jörg/Matthias Herrle 2009: Erziehungswissenschaftliche Videographie. Eine Einführung, Wiesbaden.
  • Gadamer, Hans-Georg 1999: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 7. Aufl. Tübingen.
  • Huhn, Norbert u.a. 2000: Videografieren als Beobachtungsmethode in der Sozialforschung – am Beispiel eines Feldforschungsprojekts zum Konfliktverhalten von Kindern, in: Friederike Heinzel (Hrsg.): Methoden der Kindheitsforschung, Weinheim und München.
  • Kuhn, Hans-Werner 2003: Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt. Buch – Video – CD-ROM, Schwalbach/Ts.
  • Kuhn, Hans-Werner: Basiskompetenz 2004: Unterricht interpretieren, in: Arbeitskreis Interpretationswerkstatt PH Freiburg (Hrsg.): Studieren und Forschen. Qualitative Methoden in der LehrerInnenbildung, Herbolzheim, 67-89.
  • Kuhn, Hans-Werner 2014: Textarbeit und Textquellen, in: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung 4. Aufl. Schwalbach/Ts. 450-457.
  • Kuhn, Hans-Werner / Markus Gloe / Tonio Oeftering u.a.: 2014: Musik und Politik. Politisch-kulturelle Bildung als Zugang Jugendlicher zur Politik?!, Reihe Texte und Materialien, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.
  • Kuhn, Hans-Werner 2019: „But I will always be emotionally yours …“ (Bob Dylan). Musik und Politikunterricht. In: Siegfried Frech/Dagmar Richter (Hrsg.): Gefühle, Affekte, Stimmungen – Emotionen im Politikunterricht, Schwalbach/Ts., S.170-188.
  • Michalek, Ruth: „Also, wir Jungs sind …“ Geschlechtervorstellungen von Grundschülern, Münster u.a. 2006.
  • Mühlhausen, Ulf (Hrsg.) 2006: Unterrichten lernen mit Gespür. Szenarien für eine multimedial gestützte Analyse und Reflexion von Unterricht. DVD-Beilage mit multimedialen Unterrichtsdokumenten, Baltmannsweiler.
  • Mühlhausen, Ulf/ Wolfgang Wegner 2006: Erfolgreicher Unterrichten?! Eine erfahrungsfundierte Einführung in die Schulpädagogik. Begleit-DVD mit Videoszenen und Online-Übungen zur Unterrichtsanalyse, Baltmannsweiler.
  • Rahm, Sibylle u.a. (Hrsg.) 2006: Schulpädagogische Forschung. Unterrichtsforschung Perspektiven innovativer Ansätze, Innsbruck.
  • Rauin, Udo/Matthias Herrle/Tim Engartner (Hrsg.) 2016: Videoanalysen in der Unterrichtsforschung. Methodische Vorgehensweisen und Anwendungsbeispiele, Weinheim.
  • Richter, Dagmar (Hrsg.) 2000: Methoden der Unterrichtsinterpretation. Qualitative Analysen einer Sachunterrichtsstunde im Vergleich, Weinheim und München.
  • Richter, Dagmar/ Carla Schelle (Hrsg.) 2006: Politikunterricht evaluieren. Ein Leitfaden zur fachdidaktischen Unterrichtsanalyse, Baltmannsweiler.
  • Rose, Diana 2000: Analysis of Moving Images, in: M.W. Bauer / G. Gaskell (Hrsg.): Qualitative Researching with Text, Image and Sound, London, 246-262.
  • Schelle, Carla 2003: Wie lassen sich politische Lernprozesse von Kindern beobachten? Vorschläge zur Dokumentation und Auswertung von Lernsituationen im sozialwissenschaftlichen Sachunterricht, in: Hans-Werner Kuhn (Hrsg.): Sozialwissenschaftlicher Sachunterricht. Konzeptionen – Forschungsfelder – Methoden, Herbolzheim, 175-190.
  • Videos in der LehrerInnenbildung 2005, Themenheft: Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung H.2.

 Artikel verfasst von Hans-Werner Kuhn (2007) (Überarbeitung 2020)

Zitation:

Kuhn, Hans-Werner (2007). Videoanalyse.QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-auswerten/auswertung-visueller-daten/videoanalyse.html