Workshops

Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten?

Workshop Block I: 21. März, 12:00-14:00

Das Konsensverfahren hat sich in vielen Gruppen und Organisationen der sozialen Bewegungen und darüber hinaus als Form der herrschaftsfreien Entscheidungsfindung durchgesetzt. Dabei handelt es sich meist um Entscheidungen, die von überschaubaren Gruppen in Anwesenheit ihrer Mitglieder getroffen werden. Da für die Konsensfindung die aktive Einbeziehung aller Beteiligten bzw. Betroffenen notwendig ist, lässt sich das Verfahren schon allein aus Zeitgründen nur mit bis zu ca. 20 Teilnehmenden in „Reinform“ durchführen. Bei größeren Gruppen braucht es besondere zusätzliche Methoden und früher oder später auch ein Sprecher*innen-Rats-System, in dem die Basisgruppen vertreten werden.   
Denkbar und in der Praxis erprobt sind auch dreistufige Entscheidungsebenen:
- Basis-Gruppen              
- Sprecher*innen-Rat_1. Ebene
- Sprecher*innen-Rat_2. Ebene aus Vertreter*innen verschiedener Sprecher*innen-Räte der 1. Ebene.  
Auf diese Weise können theoretisch bis zu 8.000 Personen in einen Konsensprozess einbezogen werden.

Wie dieses ineinander verzahntes Verfahren aussieht, was dabei beachtet werden muss und welche beispielhaften Erfahrungen dazu vorliegen, soll der Schwerpunkt des ersten Workshop-Teils sein.

Allerdings ist eine Maximalgrenze von 8.000 Personen kein Modell für größere Gemeinschaften wie z.B. Nationalstaaten oder Bundesländer. Ob und wie eine konsensuale Entscheidungsfindung über diesen Rahmen hinaus möglich und wünschenswert ist, soll abschließend im Austausch der Workshop-Teilnehmer*innen diskutiert werden.

Im zweiten Teil des Workshops soll das Konsensverfahren ansatzweise praktisch ausprobiert werden – wenn es die Zahl der Teilnehmer*innen zulässt auch mit einem Sprecher*innen-Rats-Modell für größeren Gruppen. Dazu sind die Teilnahme am ersten Teil des Workshops oder anderweitige Kenntnisse des Konsens-Modell notwendig. Mindest-Teilnehmer*innen-Zahl ist 15 Personen.

Einmal angenommen, wir lebten in einer Gesellschaft, deren Mitglieder tatsächlich samt und sonders auf das Bekleiden von Gewalt- und Machtpositionen verzichten. Einer Gesellschaft, in der alle Menschen direkt an Entscheidungsprozessen beteiligt sind oder sich beteiligen könnten, zumindest, wenn sie von diesen Entscheidungen direkt oder indirekt betroffen sind.

Einer Gesellschaft, die von Diskursen geprägt ist, die auf Augenhöhe stattfinden, ungeachtet der Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden. Ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer sozialen Prägung, ihrer beruflichen Tätigkeit, ihrer Religion, ihrer kriminellen Vorgeschichte, ihrer geistigen Fähigkeiten, ihrer Ausbildung. Und ungeachtet ihrer Fachkenntnis und ihrer sprachlich-argumentativen Fähigkeit, die sie selbstredend in die Lage versetzten, einzelnen Diskursen zumindest ihren Stempel aufzudrücken.

Einmal angenommen, wir lebten in einer solchen Gesellschaft. Wie wären wir dort angekommen? Wie hätten wir das erreicht?

Mit Sicherheit nicht verordnet „von oben“. Wahrscheinlich aber auch nicht „von unten“, ausgehend vom pluralistischen und zugleich unkoordinierten Engagement Einzelner.

Wenn ein solches Vorhaben gelingen soll, braucht es die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit aller Mitglieder einer Gesellschaft, sich an einem herrschaftsfreien Diskurs zu beteiligen, gemeinschaftliche Entscheidungen mit zu treffen und mit zu tragen und sich für Veränderungen und Verbesserungen einzusetzen und zu engagieren.

Dieser Workshop stellt die Methode des Philosophischen Gespräch als Einübung der Grundfähigkeiten und zentralen Haltungen eines partizipativen, ergebnisoffenen und gemeinschaftsfördernden Dialogs auf Augenhöhe vor, wie sie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen praktiziert wird. Sie leistet einen Betrag zur gelingenden Kommunikation, zur Mündigkeit des Einzelnen und zur Diskurskultur in einer Gesellschaft.

Auf Wunsch der Organisatoren stellen wir unsere Vorstellungen zu einer nach-kapitalistischen Gesellschaft in den Mittelpunkt des Workshops. Dabei wollen wir uns mit euch darüber auseinandersetzen, warum wir keine alternative Ökonomie sondern eine Gesellschaft anstreben, die herrschaftsfrei die Re_Produktion organisiert.

Um über diese Fragen zu diskutieren, denken wir dass auch die Blicke auf die Entstehung von Eigentum, Geld und Ökonomie, über die Warenverhältnisse und Arbeit in der patriarchalen Kulturgeschichte notwendig sind. Dazu gehört z.B. die symbiotische Entstehung von Ökonomie, Staat und Militär und die sehr gewalttätigen Prozesse, in denen die Menschen diesen neuen, ökonomischen Verhältnissen unterworfen wurden.

Der Situationist Jean Pierre Voyer konstatierte, dass nichts als ökonomisches System außerhalb des bürgerlichen Denkens und der bürgerlichen Welt existiert und dass dieses ökonomische System den Weg der Selbstzerstörung beschritten hat. Der Anarchist Luciano Lanza wies darauf hin, dass „unsere Unfähigkeit, die Ökonomie wegzudenken, [...] unsere Unfähigkeit deutlich werden [läßt], die Herrschaft zu annulieren.“ Und auch die marxistischen Theoretiker*innen der Kommunisierung fordern im revolutionären Prozess jegliche Buchhaltung aufzuheben. Denn diese setzt die Trennung von patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft, zwischen Produktion und Konsum voraus. Ende des 19. Jahrhunderts hatte bereits der Anarcho-Kommunismus entsprechende Schlüsse gezogen. Kropotkin skizzierte in ‚Die Eroberung des Brotes‘ Grundzüge einer anarcho-kommunistischen Gesellschaft. Das beinhaltete für ihn u.a. das Ende jeglicher Verrechnung, die freie Verteilung der Dinge und ‚Dienstleistungen‘, das Ende von „Herdsklaverei“ und Ausbeutung der kolonialisierten Länder.

Solche Gedanken weiter entwickelnd formulieren wir im Band 5 unsere eigene, offene Utopie. Noch viel mehr als für die anderen Teile unseres Buchprojektes gilt, dass wir hierin Anregungen sehen, nicht ein fertiges, alleinseligmachendes Projekt, dass alle nur nachzuvollziehen brauchen. Wir entfalten im Band 5 unsere Ideen zu einer offenen Utopie in sieben unterschiedlich umfangreichen Haupt-Kapiteln: 

Herrschaftsfreie Ökonomie?

Kommunismus?

Herrschaftsfrei die Re_Produktion organisieren

Aufbau von herrschaftsfreien Gesellschaften

Zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv in herrschaftsfreien Gesellschaften

Gesellschaftliche Naturverhältnisse

Emanzipatorische Naturwissenschaft, Technik und Technikanwendung

Einige Aspekte davon werden wir vorstellen und mit euch diskutieren.

Der Workshop benötigt einen Zeitrahmen von 180 Minuten

Befreiung vom Geld und Eigentum

… und warum das noch lange nicht reicht

Der Workshop basiert auf Inhalten unseres Buchprojektes. Wie der Umsonstladen Bremen, in dessen Umfeld es sich seit 2010 entfaltet hat, ist es ein anarchistisches Projekt. Basis davon ist eine relativ umfassende Kritik an Herrschaft, für die Anarch*a-Kommunismus, Anarch*a-Feminismus, Radikale Ökologie und unsere Praxen rund um Umsonstladen und Umsonstökonomie wichtige Bausteine sind.

Die im Januar 2020 gedruckten Band 1 und 2 des Buchprojektes sind ein Versuch einer praxis-bezogenen Analyse und radikalen Kritik der HERRschaftlichen und destruktiven (also zerstörerischen) Strukturen unter denen wir heute leben. Davon sind wir alle bis in unser Innerstes geprägt.

Die anderen Bände folgen, sobald wir genügend Geld zum Druck haben.

In Band 3 und 4 beschäftigen wir uns mit Utopien und oft widerständigen Versuchen der Befreiung vom Geld und Eigentum von der Antike bis heute.

In Band 5 fragen wir nach möglichen Wegen zur Überwindung des Bestehenden   und formulieren eine eigene offene Utopie.

Das Buchprojekt ist in einem langen selbstorganisierten und unentgeltlichen Prozess entstanden – von einem ersten Workshop auf dem Vernetzungstreffen der Umsonstläden 2010 bis hin zum Druck. Die gedruckten Bände des Buches werden nicht verkauft, sondern auf Spendenbasis verteilt.

Alternative Wirtschaftsmodelle und Visionen werden oft als hochtrabende Utopien von Visionären präsentiert, oder, gelegentlich, als eine Reihe von abstrakten mathematischen Gleichungen von Ökonomen, oder manchmal als eine Reihe von kontextualisierten, nicht allgemeingültigen Fallstudien von eher bodenständigen Aktivisten. Detaillierte und konkrete, aber dennoch verallgemeinerbare Darstellungen und Beschreibungen sind sehr selten und werden meist aus unterschiedlichen Gründen vermieden.

Im Gegensatz dazu geht es in diesem Vortrag um die Buchhaltung in einer libertären sozialistischen Wirtschaft. Wir werden argumentieren, dass jede Wirtschaft, auch eine libertär-sozialistische, detaillierte wirtschaftliche Informationen sammeln, sortieren und präsentieren muss, um faire und demokratische Entscheidungen zu ermöglichen. Wir werden einige der konkreten Herausforderungen für die Buchhaltung vorstellen, die sich bei der Einführung eines neuen Wirtschaftssystems, wie z. B. einer Partizipativen Ökonomie, unweigerlich ergeben werden, und mögliche Antworten vorschlagen.

Wie können TeilnehmerInnen einer Gruppe authentisch miteinander kommunizieren, ohne in Streitigkeiten zu verfallen oder emotionale Befindlichkeiten außer Acht zu lassen? Wie kommt es zu einem konstruktiven Dialog ohne Supervision oder einer leitenden Person, der durchaus handlungsorientiert und konsensbildend sein kann? Anhand dieser Fragestellungen werden wir uns im Rahmen des Workshops mit der Methode nach Morgan Scott Peck (1936 - 2005), einem US-amerikanischen Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller beschäftigen und dabei die Prinzipien der Gemeinschaftsbildung kennenlernen. Auch die theoretischen Überlegungen von David Bohm (1917 – 1992), einem US-amerikanischen Physiker und Philosoph, der sich ebenfalls mit der Qualität von Gruppengesprächen auseinandersetzte, werden mit einfließen. Insbesondere wird es darum gehen, zu überlegen, in wie weit diese Ideen und Ansätze als Ressource für anarchische Gruppenbildungsprozesse sowie Gemeinschaften genutzt werden können.

Bernd Drücke: "Die Veranstalter*innen der Tagung: Krise der Nationalstaaten – anarchische Antworten? schreiben in der Vorstellung ihres Konzeptes: 'Weder soll ein Überblick gegeben werden über die zum Teil großartigen lebenspraktischen Projekte, wie sie sich in Wohnprojekten, alternativen Konsumzirkeln, Kommunen oder der Organisation einer Gegenöffentlichkeit widerspiegeln (um nur einige zu nennen) noch soll eine Analyse dieser Projekte erfolgen. Auch soll die Frage nach dem Übergang bzw. der Transformation der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse in eine bessere, gerechtere und menschenwürdigere Zukunft ausgeklammert werden'.

Nun, ich wäre kein Anarchist, wenn ich mich durch solche Sätze abschrecken lassen würde. Aus meiner Sicht ist es Aufgabe von herrschaftskritischen Intellektuellen, den Elfenbeinturm zu verlassen. Es gilt nicht nur Theorie, sondern auch eine Praxis zu entwickeln, die genau das, den 'Übergang der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse in eine bessere, gerechtere und menschenwürdigere Zukunft' anstrebt.

Eine Theorie ohne Praxis? Nein danke. Also, in diesem Workshop geht es konkret um Anarchismus gestern und heute, um gelebte Utopien, das Projekt A, anarchistische und anarchosyndikalistische Theorie und Praxis. Mein Workshop beschäftigt sich mit selbstorganisierten Wohnprojekten und Kommunen. Skizziert wird auch eine anarchistische Gegenöffentlichkeit, konkret am Beispiel der Graswurzelrevolution, der Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, die seit 1972 als basisdemokratisch organisiertes Sprachrohr sozialer Bewegungen fungiert."

Weitere Infos: https://www.youtube.com/watch?v=7sYLU8Hznl4

Dr. phil. Bernd Drücke ist Soziologe, freier Journalist und Autor. Er lebt in einem alternativen Wohnprojekt in Münster und war ab 1998 über 22 Jahre lang Koordinationsredakteur der Monatszeitung Graswurzelrevolution. Seit Januar 2021 arbeitet er im Leiterteam des afas (Archiv für alternatives Schrifttum) in Duisburg. Voraussichtlich im Oktober 2021 erscheint sein neues Buch „Anarchismus Hoch 4“ im Unrast Verlag.

Workshop Block II: 21. März 14:00 - 16:00

Das Konsensverfahren hat sich in vielen Gruppen und Organisationen der sozialen Bewegungen und darüber hinaus als Form der herrschaftsfreien Entscheidungsfindung durchgesetzt. Dabei handelt es sich meist um Entscheidungen, die von überschaubaren Gruppen in Anwesenheit ihrer Mitglieder getroffen werden. Da für die Konsensfindung die aktive Einbeziehung aller Beteiligten bzw. Betroffenen notwendig ist, lässt sich das Verfahren schon allein aus Zeitgründen nur mit bis zu ca. 20 Teilnehmenden in „Reinform“ durchführen. Bei größeren Gruppen braucht es besondere zusätzliche Methoden und früher oder später auch ein Sprecher*innen-Rats-System, in dem die Basisgruppen vertreten werden.   
Denkbar und in der Praxis erprobt sind auch dreistufige Entscheidungsebenen:
- Basis-Gruppen              
- Sprecher*innen-Rat_1. Ebene
- Sprecher*innen-Rat_2. Ebene aus Vertreter*innen verschiedener Sprecher*innen-Räte der 1. Ebene.  
Auf diese Weise können theoretisch bis zu 8.000 Personen in einen Konsensprozess einbezogen werden.

Wie dieses ineinander verzahntes Verfahren aussieht, was dabei beachtet werden muss und welche beispielhaften Erfahrungen dazu vorliegen, soll der Schwerpunkt des ersten Workshop-Teils sein.

Allerdings ist eine Maximalgrenze von 8.000 Personen kein Modell für größere Gemeinschaften wie z.B. Nationalstaaten oder Bundesländer. Ob und wie eine konsensuale Entscheidungsfindung über diesen Rahmen hinaus möglich und wünschenswert ist, soll abschließend im Austausch der Workshop-Teilnehmer*innen diskutiert werden.

Im zweiten Teil des Workshops soll das Konsensverfahren ansatzweise praktisch ausprobiert werden – wenn es die Zahl der Teilnehmer*innen zulässt auch mit einem Sprecher*innen-Rats-Modell für größeren Gruppen. Dazu sind die Teilnahme am ersten Teil des Workshops oder anderweitige Kenntnisse des Konsens-Modell notwendig.  Mindest-Teilnehmer*innen-Zahl ist 15 Personen.

Was haben Staaten, nach 2 Jahren aktiver Umweltbewegung, zum Klimaschutz unternommen? Warum braucht es eine Transformation der Wirtschaft und eine Umstrukturierung der staatlichen Organisationsform, um die drastischen Konsequenzen der Klimakrise bewältigen zu können? Anhand dieser Fragestellungen, werden wir uns im Laufe des Workshops mit den Erfolgen und Misserfolgen der Klimabewegung, sowie den Ursachen dafür auseinandersetzten. Darüber hinaus werden wird die Handlungsfähigkeit der Zivilbevölkerung, im Rahmen von verschiedenen Aktionsformen und Initiativen, analysieren und erläutern welche Machtstrukturen wir überwinden müssen um diese Welt gewinnen zu können.

Das libertär-sozialistische Modell, das als partizipative Ökonomie bekannt ist, wurde in den letzten 30 Jahren in einer Reihe von Büchern und Artikeln beschrieben - und verschiedene Aspekte werden in mehreren anderen Vorträgen und Workshops auf dieser Konferenz vorgestellt. Aber erst in jüngster Zeit haben Befürworter konkrete Verfahren vorgeschlagen, wie man Investitionsplanung und verschiedene Formen langfristiger Entwicklungsplanung so durchführen kann, dass die Beteiligung der Bevölkerung maximiert und gleichzeitig effiziente Ergebnisse erzielt werden. Ich werde unsere jüngsten Erkenntnisse in dieser Hinsicht zusammenfassen, die in den Teilen IV und V von Democratic Economic Planning, das im Sommer 2021 bei Routledge erscheinen wird, ausführlich dargelegt werden. Nachdem ich die wichtigsten Punkte hervorgehoben habe, wird es reichlich Zeit für Fragen und eine aktive Diskussion geben.

Kann eine Wirtschaft wirklich effizient, fair und demokratisch von den Arbeitern und Verbrauchern selbst geplant werden, ohne dass wettbewerbsfähige Märkte oder ein zentrales Planungsgremium erforderlich sind?

In diesem interaktiven Workshop werden Sie an der Planung einer Volkswirtschaft teilnehmen, und zwar über ein jährliches dezentrales Planungsverfahren, genannt partizipative Planung.

Bitte bringen Sie ein Smartphone, Tablet oder Laptop mit.

Anarchistische Gruppen, die versuchen, ihre herrschaftsfreien Ideale schon im Hier und Jetzt auszuprobieren (Präfiguration) wollen sich bei Problemen nicht an den Staat richten. Dafür gibt es viele Gründe: Man will zeigen, dass man auch ohne Staat auskommt; man traut dem Staat nicht zu, neutral und gerecht die Anliegen der Anarchist_innen (oder überhaupt von unterdrückten Minderheiten) zu berücksichtigen; die rechtsstaatlichen Methoden sind unnötig herrschaftsförmig; usw. Die Rechtsstaatskritik des Anarchismus ist sehr breit. Allerdings müssen sich auch die alternativ erprobten Umgangsweisen mit „kriminellem“ (d.h. normverletzendem) Verhalten auf Kritik einlassen. Dabei sind zwei Bereiche zentral: Erstens die Entscheidung darüber, was die Gruppe als gültige Norm akzeptiert, und zweitens die Art und Weise, wie die Einhaltung der Normen wahrscheinlicher gemacht und wie mit Normverletzungen umgegangen wird. Im Workshop soll es nicht primär um Einzelfälle gehen (die freilich als Beispiele dienen können), sondern um die theoretische Diskussion über Institutionen, die besonders häufig in anarchistischen Gruppen eingesetzt werden: das Konsensverfahren zur Rechtsetzung sowie Modelle der Restaurative Justice und der Transformative Justice, die zur Rechtsdurchsetzung verwendet werden. Sowohl die probierende Praxis als auch die reflektierende Theorie stammen aus der anarchistischen Szene.

Zu anarchistischen Vorstellungen von Solidarität im Anschluss an Pjotr Kropotkin

Im Anarchismus spielen Theorie und Praxis der Solidarität eine zentrale Rolle. Wichtige Grundlagen sind dabei bereits von Pjotr Kropotkin in Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1903) und Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten (1923) gelegt worden.

Kropotkins Verständnis von Solidarität ist anti-staatlich motiviert. Keine Pflicht, kein gegenseitiger Nutzen, aber auch nicht verallgemeinerte Liebe und Sympathie können Kropotkin zufolge Solidarität erzeugen – und garantieren schon gar nicht. Was also dann? Es ist die Gerechtigkeit. Sie ist das politische Ziel, das auf der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen beruht, und das alle Revolutionen beflügelt habe.

Kropotkin formuliert damit bereits die zentralen Ansprüche an einen modernen Begriff von Solidarität. Allerdings treten auch hier schon die bis heute ungelösten Probleme aller Solidaritätskonzeptionen und -praktiken zutage: Kropotkin sieht die Solidarität zum einen als in der Naturgeschichte verankertes, universelles Prinzip, das sich im Laufe der Geschichte der Sittlichkeit mehr und mehr verwirklicht. Solche Naturannahmen werden allerdings aktuellen, um Produktionsweisen und sozialen Konstruktionen kreisenden, sozialwissenschaftlichen Diskursen nicht mehr gerecht. Sie umgehen zudem die Frage nach der praktischen Entstehung und der tätigen Garantie solidarischer Beziehungen.

Zum anderen sieht Kropotkin solidarische Praktiken in den Streiks der Arbeiter*innenbewegung entstehen. Die Solidarität, die hier zum Tragen kommt, ist nicht universell, sondern partikular: Sie kommt nur einigen zu (Arbeiter*innen, Genoss*innen, usw.), anderen nicht (Kapitalist*innen, Sektierer*innen, usw.). Dieses exklusive Verständnis von Solidarität ist zwar für die politische Aktion unumgänglich. Sie bleibt wegen ihres Ausschlusscharakters aber problematisch, weil Solidarität ja schließlich auf eine Gesellschaft ohne Exklusionen abzielen soll. Und sie bleibt zudem unvermittelt mit dem anderen, universellen (ethischen) Verständnis von Solidarität.