Narrationsanalyse

Vorab ist eine Begriffsklärung notwendig. Die Begriffe Textanalyse, Gesprächsanalyse, Konversationsanalyse und Erzählanalyse beschreiben ähnliche Vorgehensweisen und für die Analyse von sprachlichem Verhalten und werden teilweise synonym verwendet. Für eine Abgrenzung der Begriffe wird auf folgende Literatur verwiesen: Erzählanalyse (Schütze, 1983; Riemann, 2003, S. 45-48), Textanalyse (Lucius-Hoene & Deppermann, 2002) Konversationsanalyse basierend auf der Ethnomethodologie (Abels, 2001, S. 107-141; Sacks, Garfinkel, Austin, dargestellt in Auer, 1999; Knoblauch, 2003); Gesprächsanalyse verfügbar unter:

[http://www-user.uni-bremen.de/~schoenke/tlgl/glgl.html#Gesprächsanalyse (22.9.2004)] und Diskursanalyse (Schwab-Trapp, 2003, S. 35-39).

Hier wird der Begriff Textanalyse verwendet, da das Datenmaterial in der Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung häufig in Form von Texten vorliegt oder entsprechend aufbereitet wird (Transkripte, Beobachtungsprotokolle etc.).
Die Textanalyse (Lucius-Hoene & Deppermann, 2002 S. 96) folgt verschiedenen methodologischen Leitlinien. Im Wesentlichen stützt sie sich auf die Hermeneutik, die Konversationsanalyse und die Erzähltheorie. Sie basiert auf einer konstruktivistischen Weltsicht und sie hat das Ziel, Prozesse der Konstruktion von narrativer Identität, d.h. „qualitative Zuschreibungen zur eigenen Person, Kontinuitäts- und Kohärenzherstellung, interaktive Verhandlung und Inszenierung sowie die Einbettung in kollektive Narrative“ (Lucius-Hoene & Deppermann, 2002 S. 52), aufzuzeigen. Sie kann aber auch eingesetzt werden, um Strategien und Sprach-Handlungen im Alltag oder, wie in der sozialen Interaktion des Interviews, implizite Regeln, die das Handeln leiten, und Selbstrepräsentationen offen zu legen. Dabei ist die Frage ‘wie’ etwas vor sich geht, wichtiger als die Frage ‘warum’, zu ‘welchem Zweck’ oder ‘mit welchem Ziel’.
Die Textinterpretation orientiert sich an folgenden allgemeinen Prinzipien (Lucius-Hoene & Deppermann, 2002 S. 97-103):

(1) Datenzentrierung
Ausgangsmaterial für die Textanalyse sind die aufgearbeiteten, d.h. im Falle von Interviews sorgfältig transkribierten Daten. Die Auswertung erfolgt immer in enger Anlehnung an den Text, die sprachlichen Phänomene und der Interviewverlauf müssen präzise analysiert werden. Interpretationen von dahinterliegenden Bedeutungen müssen direkt aus den Daten abgeleitet werden können.

(2) Rekonstruktionshaltung
Gesprächsteilnehmer zeigen einander auf, welchen Sinn und welche Bedeutungen sie ihren Äußerungen wechselseitig zuschreiben, wie sie etwas meinen. Bei der Auswertung der Daten rekonstruiert die Forscherin die im text dargestellte Wirklichkeit, z.B. die Prinzipien, denen das Gespräch folgt, und zwar so, wie sie sich an der Gesprächsoberfläche zeigen. Diese Displaykonzeption geht auf die Ethnomethodologie zurück und beinhaltet, dass die Gesprächspartner sich gegenseitig den Sinn und die Ordnung ihres Tuns aufzeigen (Deppermann, 1999, S. 50). Das Ablesen des Displays ist allerdings immer mit Interpretationen verbunden, bei denen die Gesprächspartner auf Hintergrundwissen und Vorerfahrungen zurückgreifen. Alles, was eine Person sagt, hat ein ganzes Hinterland von Bedeutungen und ‘Mitgemeintem’. Deshalb sollten eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten erwogen, mehrere Lesarten eines Textes erarbeitet und vorschnelle Deutungen und Verallgemeinerungen vermieden werden.

(3) Sinnhaftigkeitsunterstellung
Äußerungen der Interviewten werden als sinnhaft motiviert angenommen. Kein Detail ist bedeutungslos oder zufällig. Die Gesprächspartner haben gute Gründe für ihr Verhalten. Deshalb gilt das Prinzip der wohlwollenden Interpretation (Lucius-Hoene & Deppermann, 2002 S. 99). Da in einer Feinanalyse auch Aspekte expliziert werden können, welche die Gesprächspartnerin nicht offen legen will, gilt als wichtiges Gebot, dass sie den Auswertungstext lesen kann, ohne sich bloßgestellt zu fühlen.

(4) Mehrebenenbetrachtung
Die Texte sollten auf mehreren Ebenen betrachtet werden. Zu unterscheiden ist zwischen der Ebene der Selbstdarstellung, der Beziehungsherstellung und der Sachverhaltsherstellung. Häufig erlaubt erst die Betrachtung aller Ebenen, den Sinn zu verstehen. Wenn z.B. durch vage Äußerungen (Sachverhaltsebene) vermieden wird, bestimmten Akteuren Verantwortung zuzuschreiben (Beziehungsebene) und zu verstehen gegeben wird, dass der Sprecher nicht schuldig sei (Selbstdarstellung), kann das nur durch die Betrachtung aller Ebenen aufgezeigt werden.

(5) Sequenzanalyse und Kontextualität
Der zeitliche Verlauf eines Gesprächs oder einer Handlung und damit der Prozesscharakter muss bei der Auswertung berücksichtigt werden. Der zeitliche Ablauf eines Interviews, wann welche Themen angesprochen werden, wann gelacht wird, wann die Interviewerin zur Mitwisserin gemacht wird, ist immer im zeitlichen Verlauf und im Kontext der übrigen Äußerungen und Handlungen zu betrachten. Jede Äußerung der Gesprächspartnerin, aber auch alle Aktivitäten der Interviewerin stehen innerhalb des Interviews in einem bestimmten Kontext, und dieser muss bei der Interpretation mitberücksichtigt werden. Nur in einer exakten Sequenzanalyse (Betrachtung der Textabschnitte in ihrem zeitlichen Verlauf) wird der Kontextualität und Prozessualität Rechnung getragen.

(6) Zirkularität und Kohärenz
Zu Beginn der Auswertung hat die Forscherin meist nur ein unpräzises Verständnis des Gesamtzusammenhangs. Vorwissen ist notwendig, um passende Fragen an den Text zu stellen, um Interviewpassagen auszuwählen etc.. In einem spiralförmigen Prozess werden immer mehr Erkenntnisse gewonnen. Das Vorverständnis wird bestätigt, erweitert, korrigiert oder widerlegt. Je mehr Interviewteile bekannt sind, desto klarere Aussagen über die Gesamtstruktur des Untersuchungsgegenstands sind möglich.

(7) Explikativität und Argumentativität
Die Interpretationen sind möglichst explizit und präzise zu formulieren, es muss nachvollziehbar sein, warum die Daten so und nicht anders interpretiert werden. Es muss begründet werden, warum welche Interpretationen vorgenommen werden und mit welchem Vorwissen sie in Zusammenhang gebracht werden.

Hier geht es zum konkreten Auswertungsverfahren im Rahmen der Textanalyse.

Literatur:

  • Abels, H. (2001). Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie (2.Aufl.). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
  • Auer, P. (1999). Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. Tübingen: Niemeyer.
  • Deppermann, A. (1999). Perspektiven zur Weiterentwicklung der konversationsanalytischen Methodologie. Paper 24 des Forschungsschwerpunkts „Familien- und Kommunikationspsychologie. Fachbereich 3 Gesellschaftswissenschaften Universität Frankfurt.
  • Deppermann, A. (1999). Gespräche analysieren. Opladen: Leske+Budrich
  • Knoblauch, H. (2003). Konversationsanalyse. In: R. Bohnsack, W. Marotzki & M. Meuser (Hrsg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.
  • Lucius-Hoene, G. & Deppermann, A. (2002). Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Opladen: Leske +Budrich.
  • Riemann, G. (2003). Erzählanalyse. In: R. Bohnsack, W. Marotzki & M. Meuser (Hrsg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.
  • Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13, 283-293.
  • Schwab-Trapp, M. (2003). Diskursanlyse. In: R. Bohnsack,, W. Marotzki & M. Meuser (Hrsg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.

Artikel verfasst von Hildegard Wenzler-Cremer (2007)

Zitation:

Wenzler-Cremer, Hildegard (2007). Narrationsanalyse. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-auswerten/dokumentarische-methode.html