Partizipative Forschung

1. Methodologische Hintergründe

Unter dem Begriff partizipativer Forschung werden Forschungsansätze subsumiert, die darauf zielen, soziale Wirklichkeit partnerschaftlich zu erforschen, zu verstehen und zu verändern, um so zur Emanzipation, sozialen Gerechtigkeit und Demokratisierung (marginalisierter) gesellschaftlicher Gruppen beizutragen. Somit wird durch die Teilhabe gesellschaftlicher Akteur*innen an Forschungsprozessen sowie deren Empowerment eine doppelte Zielsetzung verfolgt, wodurch soziale, politische und organisationale Kontexte reflektiert und dadurch nachhaltig beeinflusst werden (v. Unger 2014), da Wissen generiert wird, das für die Akteur*innen in Bezug auf das Handeln und ihre Lebenswelt relevant ist (Bergold & Thomas 2010). Respektive ist partizipative Forschung eine engagierte Forschung, die durch die Teilhabe gesellschaftlicher Akteur*innen an Forschung mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und die Perspektiven von Wissenschaft und Praxis nachhaltig miteinander verschränken will (Reisel, Egloff & Hedderich 2016).

Partizipative Forschungsansätze werden häufig u.a. in der Gesundheitsforschung, der Kindheitsforschung und den disability-studies genutzt. Im Zusammenhang mit den disability-studies, die sich als soziale Bewegung von Wissenschaftler*innen mit Behinderung mit dem Slogan ‚nothing about us without us‘ entwickelten, wurde ein Gegenmodell zur traditionellen Forschung proklamiert, in dem Menschen mit Behinderung Mitsprache in Forschungsprozessen erlangten.[1]

In Bezug auf partizipative Forschung mit Kindern sollte aus einer erziehungswissenschaftlichen und schulpädagogischen Perspektive auch der Diskurs der Kindheitsforschung als methodologischer Strang einbezogen werden (vgl. QUASUS Artikel von Schreiber 2017). Auf Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention (UNCRC, 1989, Art. 12 und 13) und Agency-Ansätzen sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung geraten Kinder mit ihren Bedürfnissen als eigenständige Gruppe politisch und öffentlich in den Blick (James, Jenks & Prout 1998; Betz & Eßer 2016). Demnach stellt sich aus top-down gesteuerter, politischer Perspektive ein Forschen über Kinder aus der Fremdperspektive als unzulänglich heraus. Aus dem wachsenden Interesse an der kindlichen Perspektive sollten Kinder selbst als Expert*innen ihrer Lebenswelt an Forschung beteiligt werden (Feichter 2015; Heinzel, 2014).

2. Praktisch methodische Anwendung

Versteht man partizipative Forschung als Forschungsstil (Bergold & Thomas 2012) und Forschungshaltung, kann der Forschungsprozess als “a research process which involves those being researched in the decision-making and conduct of the research, including project planning, research design, data collection and analysis, and/or the distribution and application of research findings” (Bourke 2009, 458) gefasst werden.

Im Folgenden wird der zirkuläre Forschungsprozess partizipativer Forschung nach Hella von Unger vorgestellt, die die Stadien eines partizipativen Forschungsprozesses wie folgt beschreibt (von Unger 2014, 51-68):

Abb.1 Stationen einer partizipativen Studie (von Unger 2014, 52)

In einem ersten Schritt geht es darum, Partner*innen zu finden, Themen einzugrenzen und den Bedarf zu bestimmen. Bei den Partner*innen für partizipative Forschung handelt es sich meist um Personen oder Einrichtungen, die in einem spezifischen Setting (z.B. Schule) präsent sind. Die Eingrenzung des Themas geschieht in den meisten partizipativen Forschungen gemeinsam mit den Personen, mit denen geforscht werden soll und die als lebensweltlich Forschende oder Co-Forschende[2] bezeichnet werden. Gemeinsam erfolgt durch die „Themen und Anliegen, die für die Akteure in den Lebenswelten und in der Praxis eine Relevanz besitzen“ (ebd., 53) das Festlegen einer Zielsetzung. Worin sich die partizipative Forschung von anderen qualitativen Forschungsstilen unterscheidet, ist, dass die Wissenschaftler*innen die Zusammenarbeit initiieren, das Thema und Ziel der Forschung wird jedoch nicht aus der Literatur heraus generiert, sondern es werden diejenigen Themen ins Zentrum gestellt, die für die Co-Forschenden relevant erscheinen und auch einen praktischen Handlungsbedarf bieten (ebd., 54). Nachdem das Ziel der Forschung definiert wurde, kann das methodische Vorgehen bestimmt werden. Dabei soll sich die Auswahl der Forschungsmethoden auf die Fragestellung und Zielsetzung, aber auch auf die Möglichkeiten des Feldes fokussieren (ebd., 56). Um angemessene Methoden auszuwählen, sollte die Lebenswelt der Co-Forschenden berücksichtigt werden. Dementsprechend muss geklärt werden, welche Formen der Unterstützung diese benötigen, damit sie im weiteren Verlauf der Forschung gleichberechtigt am Prozess teilhaben können. Für partizipative Forschungssettings steht eine große Vielfalt an Methoden zur Verfügung. Diese beinhalten u.a. klassische Methoden der qualitativen Sozialforschung, wie die teilnehmende Beobachtung, Gruppengespräche oder auch Interviews. Häufig wählen partizipative Forschungsvorhaben interaktive und kreative Methoden, wie beispielsweise Photovoice (Wang & Burris 1997) oder den Mosaic Approach (Clark & Moss 2011).[3]

Im Rahmen von studentischen Seminar- oder Abschlussarbeiten kann es sich z.B. je nach Erkenntnisinteresse und Fragestellung anbieten, partizipative Methoden und Aktivitäten in einzelne Phasen des Forschungsprozesses einzubeziehen (Manye, Howitt & Rennie, 2018), um die lebensweltlichen Perspektiven von Co-Forschenden mit aufzunehmen (von Unger 2014).

Die partizipative Zusammenarbeit zeichnet nach von Unger (2014) ein iterativer Prozess von Aktion und Reflexion aus. Dabei ist die Aktion das gemeinsame Handeln, also das Erheben der Daten zum Beispiel in Form von Interviews, teilnehmender Beobachtung und Photovoice, aber auch Interventionen im Handlungsfeld (ebd., 60).[4] Unter Reflexion wird die Auswertung der Daten verstanden, in die die Co- Forschenden miteinbezogen werden sollen. Hierfür können Co-Forschende geschult werden, jedoch plädiert Nind (2011) dafür, dass Auswertungsmethoden entwickelt werden, bei denen alle teilhaben können, damit der Wert der Analyse durch die Co-Forschenden nicht unterschätzt wird. Hierfür sollten wissenschaftlich Forschende eine Bescheidenheit in Bezug auf die Grenzen der eigenen Kompetenzen beibehalten und sie sich selbst als Mitlernende verstehen (Nind 2011, 359).

3. Ein  Forschungsbeispiel

Eine der zwei Autorinnen promoviert zur Zeit in einem partizipativen Forschungsprojekt, welches ein Teil des Projekts „Primarschulen im Spannungsfeld von Inklusion und Bildungsstandards“ darstellt.[5] In diesem Teilprojekt wird gemeinsam mit Kindern, Lehrpersonen und schulischen Heilpädagog*innen Unterricht unter Berücksichtigung der Lernausgangslagen aller Schüler*innen weiterentwickelt. Insbesondere die Perspektive der Kinder und dahingehend ihre Lösungen in Bezug auf inklusiven Unterricht ist von besonderem Interesse. Dabei wird so vorgegangen, dass sowohl die Kinder als auch die Lehrpersonen und schulischen Heilpädagog*innen als Co-Forschende mit Hilfe eines Tagebuchs bzw. der Photovoicemethode mögliche Momente von Ein- und Ausschlussprozessen (in Bezug auf Lernprozesse und soziale Partizipation) fotografisch festhalten. Die Einträge der Co-Forschenden werden in gemeinsamen Reflexionsgesprächen formuliert und diskutiert. Im Anschluss werden die Protokolle dieser Gespräche von der Forscherin zusammengestellt und wiederum den lebensweltlich Forschenden für die gemeinsame Auswertung zugänglich gemacht. Anschließend sortieren die Co-Forschenden die Daten gemeinsam und bestimmen, welche Themen in einem nächsten Schritt im Unterricht bearbeitet werden sollen. Um Möglichkeiten der Unterrichtsentwicklung aufzuzeigen, diskutieren die Forscherin, die Lehrpersonen und die schulischen Heilpädagog*innen die Ergebnisse bevor diese in einem gemeinsamen Gespräch mit den Kindern thematisiert und darauf folgend mit der Forscherin in Bezug auf mögliche Veränderung des Unterrichts ausgewertet werden. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass nicht jeder Schritt im Forschungsprozess partizipativ gestaltet werden muss, dass aber versucht wird, alle Co-Forschenden als Expert*innen ihrer Lebenswelt zu adressieren und in sämtliche Forschungsprozesse miteinzubeziehen.

Podcasts/Videos:

https://highways2health.de/podcast/09-digitale-partizipative-forschung.html

Literatur

Bergold, J. & Thomas, S. (2010). Partizipative Forschung. In Mey, G. & Mruck, K. (Hrsg.), Handbuch Qualitativer Forschung in der Psychologie (S.113 – 134). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Bergold, J., & Thomas, S. (2012). Partizipative Forschungsmethoden: Ein methodischer Ansatz in Bewegung. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 13 (1).

Betz, T., & Eßer, F. (2016). Kinder als Akteure–Forschungsbezogene Implikationen des erfolgreichen Agency-Konzepts. Diskurs Kindheits-und Jugendforschung/Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 11 (3), 301-314.

Bourke, L. (2009). Reflections on doing participatory research in health: participation, method and power. International Journal of Social Research Methodology 12(5), 457-474.

Clark A. & Moss P. (2011). Listening to young children. The Mosaic Approach. London and Philadelphia.

Feichter, H. (2015). Schülerinnen und Schüler erforschen Schule: Möglichkeiten und Grenzen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Heinzel, F. (2014). Kindheit und Grundschule. In W. Einsiedler, M. Götz, A. Hartinger, F. Heinzel, J. Kahlert & U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik (4. Aufl.) (S. 155–163). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

James, A., Jenks, C., & Prout, A. (1998). Theorizing childhood. In C. Jenks (Hrsg.), Childhood – Critical Concepts in Sociology (S.138-160). New York: Rouldege.

Mayne, F., Howitt, C., & Rennie, L. J. (2018). A hierarchical model of children’s research participation rights based on information, understanding, voice, and influence. European Early Childhood Education Research Journal, 26(5), 644-656.

Nind, M. (2011). Participatory data analysis: A step too far? Qualitative Research, 11(4), 349-363.

Reisel, M., Egloff, B., & Hedderich, I. (2016). Partizipative Forschung. In I. Hedderich, G. Biewer, J. Hollenweger, & R. Markowetz (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (S. 636-645). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Schreiber, V. (2017). Forschen mit Kindern. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL (https://quasussite.wordpress.com/forschen-mit-kindern/)

Unger, H. v. (2014). Partizipative Forschung—Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Wang C. & Burris M.A. (1997). Photovoice: Concept , methodology, and use for participatory needs asswssment. Health Education & Behavior, 24(3), 369-387.

Wöhrer, V., Wintersteller, T., Schneider, K., Harrasser, D., Arztmann, D. (2018). Praxishandbuch. Sozialwissenschaftliches Forschen mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim Basel: Beltz Juventa.

Weiterführende Literatur

Buchner, T., Koenig, O., & Schuppener, S. (2016). Inklusive Forschung. Gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Büker, P., Hüpping, B., Mayne, F., & Howitt, C. (2018). Kinder partizipativ in Forschung einbeziehen–ein kinderrechtsbasiertes Stufenmodell. Diskurs Kindheits-und Jugendforschung/Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, 13(1), 21-22.

Wöhrer, V., Wintersteller, T., & Schneider, K. (2018). Doris Harrasser & Doris Arztmann Praxishandbuch Sozialwissenschaftliches Forschen mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim Basel: Beltz Juventa.


[1] Durch die Participatory Action Research, die sich in den USA herausgebildet hat, hat sich die inklusive Forschung entwickelt. Besonders entscheidend für die Entstehung inklusiver Forschungsansätze sind neben diesen Bewegungen der Personen mit Behinderungen auch das Normalisierungskonzept und das soziale Modell von Behinderung (Goeke 2016, 45 f.). Ausführlicher Informationen finden sich in der weiterführenden Literatur. 

[2] Co- Forschende werden im Diskurs auch Mitforschende, Forschende, Partner*innen und anders genannt. Hier wird der Begriff der Co- Forschenden verwendet um die Abgrenzung zu den Forschenden von Universitäten herstellen zu können.

[3] Photovoice gibt die Möglichkeit durch die Verwendung von Fotos oder Zeichnungen ein Anliegen zu zeigen und darüber zu reflektieren (Wang & Burris 1997). Der Mosaic Approach will mit unterschiedlichen Methoden dabei helfen, dass den Kindern zugehört werden kann. Das Zuhören bezieht sich dabei nicht nur auf das gesprochene Wort, sondern auch auf Handlungen im Spiel von Kindern (Clark & Moss 2011). Bei weiterem Bedarf an Informationen zu unterschiedlichen Methoden siehe z.B. Wöhrer et al. (2018).

[4] Mögliche Interventionen können Massnahmen zur Stärkung der Gemeinschaft sein (von Unger 2014).

[5] Für mehr Informationen zum Projekt: https://blogs.fhnw.ch/inklusion/primarschulen-im-spannungsfeld-von-inklusion-und-bildungsstandards/

 

Artikel verfasst von Kathrin Lemmer & Franziska Oberholzer (2021)

Zitation:

Lemmer, Kathrin/Oberholzer, Franziska (2021): Partizipative Forschung.  QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL (https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/was-ist-qualitative-sozialforschung/partizipative-forschung.html).