Objektive Hermeneutik

Die Objektive Hermeneutik wurde von Ullrich Oevermann (1981, 2000) als sozialwissenschaftliche Forschungsmethode zur Interpretation von Texten entwickelt. Ihr zentrales Anliegen ist, den „Akt der Interpretation als methodischer Kern einer sinnverstehenden Wirklichkeitsforschung“ (Wernet, 2000, S. 9) an intersubjektiv überprüfbare Kriterien zu binden.

Methodologische Einordnung und theoretischer Hintergrund der Objektiven Hermeneutik

Die Datengrundlage für objektiv-hermeneutische Analysen stellen Texte dar. Sie werden als „Protokolle der Wirklichkeit“ (Wernet, 2000, S. 12) gesehen. Die zu untersuchende Welt, zu der die Texte einen direkten Zugang darstellen, besitzt eine sinnhafte Struktur. Diesen Sinn methodisch kontrolliert zu erfassen und durch den Prozess des Verstehens der Struktur eines Textes Aussagen über die Wirklichkeit machen zu können, ist Ziel der Objektiven Hermeneutik. Die beanspruchte methodische Überprüfbarkeit und der verbindliche Geltungsanspruch der Objektiven Hermeneutik begründet sich hierbei in der prinzipiellen Regelgeleitetheit sozialen Handelns. Die Welt, in der sich handelnde Subjekte bewegen, ist von Regeln bestimmt, welche den Handlungen erst Bedeutung verleihen und einen Raum möglicher Verhaltensweisen für die Subjekte aufspannen. „Soziales Handeln konstituiert sich entlang dieser Regelen, und die Interpretation der Protokolle dieses Handelns erfolgt unter Rückgriff auf dieses Regelwissen“ (Wernet, 2000, S. 13). Die Bedeutung der Handlung, für die sich ein Subjekt letztendlich entscheidet, wird erst vor dem Hintergrund der anderen möglichen Verhaltensweisen deutlich, für die sich das Subjekt nicht entschieden hat. Das Wissen um diese Regeln ermöglicht die Interpretation der Bedeutung der jeweils gewählten Verhaltensalternative.

In einer konkreten Situation wählen die Handelnden unter den durch soziale Regeln eröffneten Möglichkeiten bestimmte Handlungen aus. Diese Auswahl erfolgt nicht statisch sondern in einem Prozess, da sich nach jeder getroffenen Entscheidung neue Handlungsalternativen als Anschlussmöglichkeiten ergeben. Deshalb muss auch die objektiv-hermeneutische Rekonstruktion des Musters, welches einer bestimmten Interaktion zu Grunde liegt (der sog. Fallstruktur), in einem Prozess, in welchem die Abfolge der konkreten Selektionen vor dem Hintergrund der jeweils möglichen Anschlussalternativen betrachtet wird, verlaufen. Die Tatsache, dass die sozialen Regeln unserer Wirklichkeit als nicht hintergehbar gesehen werden, macht eine unerwartete, regelverletzende Handlungsentscheidung eines Subjekts aber nicht unmöglich. Sie verleiht ihr im Gegenteil erst ihre besondere Bedeutung.

In der Logik der Objektiven Hermeneutik wäre es ein Missverständnis zu glauben, dass die handelnden Subjekte sich der jeweiligen Fallstruktur, die einer konkreten Interaktionssituation zu Grunde liegt, bewusst sind. Erst im Prozess der sequentiellen objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion der Fallstruktur kann die latente Sinnstruktur dieser Interaktion herausgearbeitet und bewusst gemacht werden. Zur Interpretation eines Textes soll also die Sichtweise, die Erlebensrealität und das Selbstbild der handelnden Personen nur als ein möglicher Betrachtungswinkel gesehen werden. Die Ebene der latenten Sinnstruktur verleiht dieser Bedeutungsschicht erst ihre Aussagekraft.

Vorgehensweise bei der Interpretation eines Textes

Nach Reichertz (2004) wurden im Laufe der Zeit unterschiedliche Vorgehensweisen der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation entwickelt. Die sequenzielle Analyse und Rekonstruktion der objektiven Bedeutung der einzelnen Interakte eines Interaktionsprozesses ist jedoch mit Abstand das am Häufigsten angewandte Interpretationsvorgehen. Hier erfolgt die Interpretation zu erst einmal ohne Bezugnahme auf die konkreten Kontextbedingungen, in denen die Interaktion stattgefunden hat. Hierbei werden zunächst Geschichten über möglichst viele Situationen generiert, in welchen eine bestimmte Aussage Sinn ergeben würde. Sequentiell werden weitere Interakte in die Interpretation mit aufgenommen. Es wird nun nach Geschichten und Situationen gesucht, in der die bisher interpretierten Aussagen angemessen und sinnvoll wären. Die diesen Geschichten gemeinsamen allgemeinen Struktureigenschaften werden dann in einem zweiten Schritt herausgearbeitet und in einem weiteren Schritt mit dem konkreten Kontext der Aussage verglichen. Im Laufe der Analyse ergibt sich hieraus eine spezielle Fallstruktur, welche die untersuchte Interaktion charakterisiert.

Interpretationsprinzipien

1. Kontextfreiheit

Das Prinzip der kontextfreien Interpretation bedeutet nicht, dass die Rahmenbedingungen, in denen eine Interaktion stattgefunden hat, bei der Interpretation der Handlungen außer Acht gelassen werden. Würde man die Kontextbedingungen jedoch sofort als Informationen in den Interpretationsprozess aufnehmen, wäre es fast unmöglich zu verhindern, dass der Text ausschließlich durch den Kontext verstanden wird. Um dies zu vermeiden und die Unabhängigkeit der Analyse von der Kontextuierung zu gewährleisten, erfolgt letztere immer erst in einem späteren Schritt, nachdem der Text zuvor als „eigenständiges Wirklichkeitsgebilde“ (Wernet, 2000, S. 22) behandelt und eine kontextunabhängige Bedeutungsexplikation vorgenommen wurde. Das bedeutet, dass im ersten Interpretationsschritt gedankenexperimentelle Kontexte gesucht werden, die mit den Äußerungen im Text kompatibel erscheinen. Das erste Herangehen an einen Text ist also immer unvoreingenommen. Erst dann wird in einem zweiten Schritt der reale Kontext, in dem die Interaktion stattgefunden hat, kontrastierend gegen die zuvor kontextunabhängig generierten Lesarten gestellt. So kann gewährleistet werden, dass die Einbeziehung des realen Kontexts als methodisch kontrollierter Schritt in die Interpretation einfließt.

2. Wörtlichkeit

Nimmt man das Textverständnis der Objektiven Hermeneutik als protokollierte soziale Wirklichkeit beim Wort, so muss man auch die Texte, die zur Analyse der Wirklichkeit verwendet werden, wörtlich nehmen. Nur so kann überhaupt von methodologischer Kontrolle gesprochen werden. Beginnt man nämlich bei der Interpretation, kleine oder große Ungereimtheiten im Text zu glätten (in dem man beispielsweise überlegt, wie der Sprecher das wohl gemeint haben könnte) geht die Ebene der latenten Sinnstruktur verloren. Die Objektive Hermeneutik fordert den Interpreten dazu auf, die Differenzen zwischen der vom Sprecher intendierten Bedeutung und dem wirklich gesprochenen Text ernst zu nehmen.

3. Sequentialität

Wie das Prinzip der Wörtlichkeit so verlangt auch das der Prinzip Sequentialität, dass man den Text ernst nimmt. Hier geht es darum, dass man bei der Interpretation genau dem Ablauf des protokollierten Textes folgt, ihm also „in seiner Sequentiiertheit interpretatorisch gerecht“ (Wernet, 2000, S. 28) wird und sich nicht die Teile herausnimmt, die einem wichtig oder bedeutungsvoll erscheinen. Nur wenn man die Position der einzelnen Interakte in der Abfolge einer Interaktion mit einbezieht, wird deren Bedeutung als Handlungs-entscheidungen einer spezifischen Lebenspraxis rekonstruierbar. Hierfür ist es dringend erforderlich, den Text, der einer zu interpretierenden Stelle folgt, zunächst nicht zu beachten (zum Beispiel in dem man ihn zudeckt).

4. Extensivität

Die Sinnstruktur, die einem Text als Protokoll der sozialen Realität zugrunde liegt, ist in jeder Stelle des Protokolls rekonstruierbar. Es ist also nicht notwendig, das vorhandene Datenmaterial vollständig auszuwerten, um es zu verstehen. Im Gegensteil wäre der Aufwand für eine vollständige Analyse aller vorhandenen Daten in der Regel viel zu hoch. Die Interpretation soll jedoch sinnlogisch erschöpfend sein, das heißt, dass alle sinnvollen Kontexte im Gedankenexperiment ausgeleuchtet werden sollen. Methodologische Gründlichkeit bedeutet also nicht, alles zu interpretieren, sondern einen Teil ausführlich zu interpretieren. So kann man die zugrunde liegende Struktur einer Interaktion durch die extensive Interpretation eines Teils ihres Protokolls vollständig rekonstruieren.

5. Sparsamkeit

Bei der Lesartenbildung soll man sich auf die Geschichten beschränken, die sich direkt aus dem Text heraus begründen lassen, ohne dass zusätzliche Spekulationen erforderlich sind. Hier geht es aber nicht nur um die forschungsökonomische Dimension der Begrenzung möglicher Lesarten, sondern auch vor allem darum zu verhindern, dem Text Aspekte zu unterstellen, die sich nicht aus ihm heraus begründen lassen, die seine Regelhaftigkeit verletzen würden. Nur so kann der Interpretationsprozess methodisch kontrolliert und anderen zugänglich bleiben. Sparsamkeit wird nicht nur bei der Lesartenbildung gefordert. Auch die Fallstruk-turhypothesen müssen aus dem Text heraus begründbar und am Protokoll festzumachen sein.

Literatur:

  • Wernet,  A. (2000). Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Opladen: Leske & Budrich.
  • Oevermann, U. (1981). Fallrekonstruktionen und Strukturgeneralisierung als Beitrag der  objektiven Hermeneutik zur soziologisch-strukturtheoretischen Analyse. (Unveröffentlichtes Skript).
  • Oevermann,  U. (2000). Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung  sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In Kraimer, K. (Hrsg.) Die  Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in  der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Reichertz, J. (2004). Objective Hermeneutics and Hermeneutic Sociology of Knowledge. In: Flick, U. (Hrsg.). Companion to Qualitative Research. London: Sage.

Artikel verfasst von Marco Petrucci (2008), Weiterentwicklung Debora Niermann (2013)

Zitation:

Petrucci, Marco (2008). Objektive Hermeneutik. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-auswerten/objektive-hermeneutik.html