Antikemythen in zeitgenössischen und gegenwärtigen Perspektiven

Dr. Daniel Emmelius (Universität Duisburg-Essen), Dr. Ole Johannsen, Dr. Elisabetta Lupi (Universität Rostock), Prof. Dr. Anabelle Thurn (Pädagogische Hochschule Freiburg)

Zahlreiche Narrative über die Antike unserer und vergangener Zeiten können als Mythen oder Mythisierungen verstanden werden. Einige davon sind bereits in der Antike zum Mythos geworden, andere erst in der Retrospektive, in humanistischer oder auch erst in moderner Zeit. Gegenwärtige Fragestellungen prägen ebenso die geschichtskulturelle Rezeption der Antike wie unweigerlich auch Forschungsinteressen. Vier Perspektiven beleuchten Etappen der Antikerezeption und -forschung im 19., 20. und 21. Jahrhundert.

Der Mythos eines ‚dekadenten‘ Griechenlandes: Antikenrezeption in den Theaterstücken von Gabriele D’Annunzio (Lupi): Warum setzte sich in seinen Schriften ein überzeugter Nationalist und später Faschist, der eine militaristische und aggressive Lebensauffassung vertrat, gerade mit den klassischen tragischen Dichtern Sophokles und Aischylos auseinander? Warum war dieser Nationalist ausgerechnet von Mykene und den antiken Mythen um diese Stadt fasziniert?  Dieses Teilprojekt befasst sich mit der Rezeption der griechischen Mythen am Ende des 19. Jahrhundert und zur Zeit des italienischen Faschismus am Beispiel der Theaterstücke von Gabriele D'Annunzio.

Braindrain der scientific community der Alten Geschichte während des Nationalsozialismus (Johannsen): Die Entwicklung der Alten Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus stellt innerhalb der Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte zu dieser Disziplin einen Schwerpunkt dar und kann als ein vergleichsweise gut erschlossenes Forschungsfeld gelten. Während dabei der Befund personeller und institutioneller Kontinuitäten nach 1945 oftmals beschrieben wurde und auch das heutige Bild von der Fachentwicklung von der Weimarer Republik bis in die Zeit der Bundesrepublik bestimmt, fehlt es indes an einer systematischen Aufbereitung des Emigrationsverlustes der deutschen Altertumswissenschaft. Das Teilprojekt widmet sich der bislang unzureichend erfassten „Passivbilanz“ (Karl Christ) der deutschen Altertumswissenschaft im Zuge von Ausgrenzung und Verfolgung in nationalsozialistischer Zeit und den dadurch unterbrochenen und verschütteten methodischen und thematischen Neuansätzen.

Mythische Antikebilder in Games seit den 1990er Jahren (Emmelius): Die Antike ist spätestens seit den späten 1990er Jahren (z.B. Age of Empires von 1997) ein sehr beliebtes Sujet in Computerspielen verschiedener Genres, wobei viele dabei aufgegriffene Narrative mythischen Charakter besitzen. Demgegenüber steckt jedoch die Erforschung dieser Narrative noch in den Kinderschuhen, gerade hinsichtlich der Frage nach längerfristigen Veränderungen über einzelne besonders erfolgreiche Games hinaus. Das Teilprojekt verfolgt das Ziel, anhand ausgewählter Beispiele zu untersuchen, inwiefern veränderte politische und gesellschaftliche Kontexte und Faktoren wie die zunehmende Diversität der Spielenden in den letzten ca. 30 Jahren zu Veränderungen in den Rezeptionen der Antike in diesem Feld beigetragen haben.

Kulturmythos römische Dekadenz (Thurn): Das Motiv der römischen Dekadenz, die lange sogar mit Untergangsnarrativen verbunden war, verfügt über eine jahrhundertelange Entwicklungsgeschichte. Wie im Falle vieler anderer Motive tut auch die vielfach durchgeführte ideengeschichtliche Rekonstruktion der spätrömischen Dekadenz ihrer Perpetuierung keinen Abbruch. Relikte alter Überzeugungen treten mit Alltagsmythen in kaum trennbare Verbindungen. An diesen Verquickungen setzt das Teilprojekt an und fragt nach der Funktion heute noch beobachtbarer Rezeptionsmuster zur spätrömischen Dekadenz.