
Wissen & Psyche
Die Verbindung von Wissen und Psyche bildet einen zentralen Gegenstand soziologischer Analyse, der weit über rein psychologische oder medizinische Betrachtungsweisen hinausgeht. In einer Zeit zunehmender Psychologisierung und Therapeutisierung gesellschaftlicher Verhältnisse stellt sich die Frage, wie und welches Wissen über die menschliche Psyche entsteht, vermittelt und gesellschaftlich wirksam wird. Psychisches Leiden und Gesundheit sind nie nur individuelle Erfahrungen, sondern werden durch gesellschaftliche Wissensordnungen geformt und gedeutet. Die Soziologie zeigt auf, dass Wissen über psychische Phänomene immer in spezifischen sozialen Kontexten produziert wird und von Machtverhältnissen, professionellen Interessen und kulturellen Normen durchdrungen ist. Eine kritische Wissenssoziologie der Psyche hinterfragt die Selbstverständlichkeiten therapeutischen Wissens und dessen gesellschaftliche Funktionen. Sie zeigt auf, wie Wissen über psychische Gesundheit und Krankheit zur Stabilisierung oder Infragestellung bestehender Verhältnisse beitragen kann. Die wissenssoziologische Betrachtung von Psyche und psychischem Leiden trägt dazu bei, die sozialen Bedingungen psychischer Gesundheit sichtbar zu machen. Sie ermöglicht es, über eine rein individualisierende Sichtweise hinauszugehen und die gesellschaftlichen Kontexte einzubeziehen, in denen psychisches Leiden entsteht und bearbeitet wird.
Personen
Laufende Projekte
Psychotherapeutische Behandlung arbeitsbezogenen Leidens in Deutschland [PsyWork] (in Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung Frankfurt), Laufzeit: 01/2022 bis 06/2025, Projektmitarbeiter*innen: Alexander Herold (Standort PH Freiburg), Ina Braune (Standort Frankfurt), gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
(in Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main)
Projektleitung und Antragstellung: Prof. Dr. Sabine Flick (PH Freiburg)
Projektbearbeitung: Prof. Dr. Sabine Flick, Alexander Herold (PH Freiburg), Ina Braune (Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main)
Förderinstitution: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Zeitraum der Förderung: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2024
Dass sich die Arbeitsbedingungen in der Gegenwartsgesellschaft in einem grundlegenden Wandlungsprozess befinden, ist mindestens seit der Debatte um das Burn-Out, spätestens aber seit der Covid-19-Pandemie in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Die zunehmende Flexibilisierung, Prekarisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt wird von einer Zunahme psychischer Belastungen flankiert: Die Arbeit kann nicht nur psychische Leiden auslösen oder verstärken, sondern es auch erschweren, auf gesundheitliche Beeinträchtigungen rechtzeitig angemessen zu reagieren. Die steigenden Zahlen psychiatrischer Diagnosen stellen somit auch eine Frage nach der klinischen, therapeutischen Versorgung.
Hier setzt das Forschungsprojekt an: Erste Studien haben gezeigt, dass in psychotherapeutischen Kliniken die Arbeitsbedingungen der Patient*innen, wenn überhaupt, nur am Rande adressiert werden. Diese Lücke in der Behandlungspraxis hat Folgen für das arbeitsbezogene Leiden der Patient*innen: Häufig wird es in seinen sozialen Dimensionen verkannt, dadurch individualisiert und letztlich privatisiert.
Das Forschungsprojekt nimmt die psychotherapeutischen Perspektiven zum Zusammenhang von Arbeit und Leiden soziologisch in den Blick: Es wird qualitativ-empirisch untersucht, wie Arbeit in psychotherapeutischen Einrichtungen verhandelt wird. Welche Bedeutung schreiben die multiprofessionellen Teams den Arbeitsbedingungen und -belastungen für die Situation ihrer Patient*innen zu? Wie genau deuten und behandeln sie im Alltag der Kliniken das arbeitsbezogene Leiden der Patient*innen? Welche Rolle spielen dabei womöglich geschlechtsspezifische Annahmen und Ideen über die Herkunft und den sozialen Status der Patient*innen? Welchen Einfluss nehmen die psychotherapeutischen Therapieverfahren?
Das Ziel des Projekts ist die Entwicklung einer Typologie des psychotherapeutischen Verständnisses von arbeitsbedingtem Leiden auf der Grundlage der Rekonstruktion von Praxistheorien. Im Rahmen einer ethnografischen Feldforschung in psychosomatischen Akut- und Rehakliniken in Deutschland werden qualitative Daten erhoben. Neben ethnografischen Beobachtungen werden Einzelinterviews und Gruppendiskussionen geführt und mit der dokumentarischen Methode sowie inhaltsanalytisch ausgewertet.
Handlungskonzepte und Selbstverständnisse professionell Tätiger im Feld Sexualität (SeXplore)
[in Beantragung]
Das Ziel des Forschungsprojekts „SeXplore“ ist die Analyse von Handlungskonzepten und
Selbstverständnissen professionell Tätiger im Feld Sexualität. Konkret soll untersucht werden, welche
expliziten und impliziten Konzepte von Sexualität die verschiedenen Berufsgruppen (Sexualmedizin,
Sexualtherapie, Sexualberatung und Sexualpädagogik) in ihrer Arbeit anwenden und wie sich diese in
ihrem professionellen Selbstverständnis niederschlagen. Das Projekt ist theoretisch in der Kultur-,
Wissens- und Professionssoziologie verortet. Es geht von der These einer zunehmenden
„Therapeutisierung“ aus und analysiert, wie professionelle Akteur*innen Sexualität als Gegenstand ihrer
Arbeit konstruieren und welche Normalitätsvorstellungen dabei wirksam werden. Vornehmlich vier
Professionsbereiche erheben gegenwärtig einen Zuständigkeitsanspruch für das, was sie jeweils als sexuelle
Gesundheit adressieren: Medizin, Therapie, Beratung und Pädagogik zielen mit jeweils unterschiedlichen
Logiken auf ihren Gegenstand. Inwiefern sich eine idealtypische, vermeintlich klare Abgrenzung von
Professionsbereichen und Ansätzen empirisch auch in Handlungskonzepten und Selbstverständnissen
niederschlägt und was dann jeweils als eigener Gegenstand verhandelt wird, steht im Zentrum der
Fragestellung des empirischen Forschungsprojekts. Diese Fragestellung ist aus
differenzierungssoziologischer Perspektive hochrelevant: Was gilt als „normale“ Sexualität, und welche
sexuellen Ausdrucksformen werden als behandlungsbedürftig markiert? Welche Annahmen über
Sexualität im Zusammenhang mit sozialen Kategorien wie Alter, Geschlecht oder Behinderung existieren,
und wie werden diese in professionellen Praktiken reproduziert? Hierbei zeigt sich deutlich, wie soziale
Differenzierungskategorien normative Vorstellungen prägen und zu ungleichen Zugängen zu sexueller
Gesundheitsversorgung führen können.
Publikationen
2025 „Man kann am Ende nur an sich selbst arbeiten, nicht an den Umständen“ – Zur (Nicht-)Passung von Konzepten von Arbeitsleiden und Behandlungsstrategien in der Psychosomatik (mit Ina Braune und Alexander Herold). Soziale Probleme. Zeitschrift für Soziale Probleme und Soziale Kontrolle. Heft 2/2025, 116-133
2025 Arbeitsleiden in psychosomatischen Settings. Zur (Un)Möglichkeit gesellschaftliche Strukturen zu behandeln. In: Zur Gesellschaft der verletzten Seelen
Neue soziologische Perspektiven auf Psychiatrie, Gesellschaft und Subjekt Hg. von Martin Harbusch, Ernst von Kardorff & Dominik Robin, 163-183
2024 Enduring Modernity. Depression, Anxiety and Grief in the Age of Voicelessnes. (Co-edited by Domonkos Sik, Bert van den Bergh, Kieran Keohane). Routledge
2024 Multiprofessionalität als Chimäre? Zum professionellen Selbstverständnis des klinischen Sozialdiensts in der Psychosomatik. In DZI Soziale Arbeit (mit Ina Braune und Alexander Herold) , 328–334.
2024 Resilience, Salutogenesis and Social Suffering. In: The Sick Society [Det syge samfund - en antologi til minde om Anders Petersen]. Peter Clement Lund & Alfred Sköld (ed.), 207–225.
2024 Eine Therapie Sozialen Leidens? (Un)möglichkeiten psychotherapeutischer Praxis in der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft. In: Handeln in einer schlechten Welt: Zur Praxis der Kritik (IfS Aus der Reihe, Hg. von E, Fleischmann und M. Broll) (mit Ina Braune und Alexander Herold) 170-185
Kooperationen
Kontakt
Prof. Dr. habil. Sabine Flick
Tel.: +49 (0)761 682-590
E-Mail: sabine.flick@ph-freiburg.de
Adresse
Pädagogische Hochschule Freiburg
Institut für Soziologie
Kunzenweg 21
79117 Freiburg