Dokumentarische Methode

Mit der dokumentarischen Methode knüpft Ralf Bohnsack an die methodologische Tradition der Kultur- und Wissenssoziologie Karl Mannheims (1980) an. Bereits in den 1920er Jahren arbeitete Mannheim in der ‚Lehre von der Seinsverbundenheit des Wissens’ seine methodologischen Einsichten aus. Die Auswertungen mit der dokumentarischen Methode zielen darauf, die soziale Welt aus der Perspektive der Handelnden zu sehen. Dabei ist die Analyse des handlungspraktischen Erfahrungswissens zentraler Gegenstand der Rekonstruktionen.

”Es bedarf vielmehr des Einblicks in das handlungspraktische Wissen und in die Eigendynamik der Interaktion und der habitualisierten Praxis. Diese erschließen sich über die Analyse von Beschreibungen oder Erzählungen oder in direkter Beobachtung“ (Bohnsack 2002, 120).

Regeln, Muster und Strukturen der Interaktionen werden rekonstruiert. Die Ebene des subjektiven Sinns wird überschritten, da die mit der dokumentarischen Methode rekonstruierten tiefer liegenden Strukturen im konkreten Handeln nicht mehr bewusst sind – sie haben aber eine große Bedeutung für das Handeln der Personen im Feld.

Zentrale Voraussetzung für den Nachvollzug der betrachteten sozialen Welt ist die Offenheit des Feldzugangs. Das bedeutet für den Forschungsprozess: Die entwickelten Fragestellungen leiten den Prozess nur an – sie werden ständig modifiziert und erweitert. Die aus diesem Prozess heraus entstehenden Theorien sind gegenstandsbezogen, da sie aus dem Material heraus entwickelte Konstruktionen sind. Die geforderte methodische Kontrolle geschieht bei den rekonstruktiven Verfahren in der „Kontrolle über die Unterschiede der Sprache von Forschenden und Erforschten, über die Differenzen ihrer Interpretationsrahmen, ihrer Relevanzsysteme“ (Bohnsack 2003, 20). Dies gelingt nur, wenn die Erforschten die Möglichkeit haben, die Relevanzsysteme zu entfalten. Erst dann können die Unterschiede der Interpretationsrahmen rekonstruiert werden.  Die entfalteten Konstruktionen des Alltags (Konstruktionen 1. Grades) müssen von den Forschenden rekonstruiert werden (Konstruktionen 2. Grades).

Daten

Damit die Befragten ihre Relevanzsysteme entfalten können, werden für die Analyse mit der dokumentarischen Methode Daten benötigt, die möglichst wenig von der/dem Interviewenden strukturiert werden. Dies sind beispielsweise Gruppendiskussionen oder offene Leitfadeninterviews. Die in den Gesprächen entstehenden Strukturen sollen möglichst wenig durch Impulse oder Fragen unterbrochen werden.

Immanenter und dokumentarischer Sinngehalt

Zentral ist bei der dokumentarischen Methode die Unterscheidung zwischen „immanentem“ und „dokumentarischem“ Sinngehalt einer Gruppendiskussion/eines Interviews.

Bohnsack bezieht sich hier auf Mannheims Modell kollektiver Orientierungsmuster (1964, 1980). Mannheim unterscheidet zwei Sinngehalte einer Interaktion. Mit dem „immanenten Sinngehalt“ (Mannheim 1980) beschreibt Mannheim das, was im Gespräch inhaltlich diskutiert wird. Alle Beschreibungen und Erzählungen enthalten zudem die Orientierungsmuster der Teilnehmenden eines Gespräches. Mannheim (1964) nennt diese kollektiven Muster den „dokumentarischen Sinngehalt“. Die Art und Weise, wie ein Thema behandelt wird, in welchen Rahmen es gestellt wird, bildet ein Sinnmuster, das den Erzählungen gemeinsam ist – das Orientierungsmuster bzw. den Orientierungsrahmen. Diese Rahmen und Muster eines Gespräches reproduzieren sich nach Mannheim unabhängig vom jeweiligen Thema. „verkürzt gesagt geht es darum, den immanenten Sinngehalt von Äußerungen – also das, was gesagt wird – zu unterschieden von dem, was sich darin dokumentiert, dass dies und wie es gesagt wird“ (Behnke u.a. 1998, 228).

Hierfür muss einerseits die gesamte Diskursorganisation rekonstruiert werden (wie sind die Redebeiträge aufeinander bezogen?); andererseits muss die Dramaturgie des Diskurses (z.B. Höhepunkte, „dichte“ Stellen) berücksichtigt werden.

Für die Auswertung spielen die Kriterien „Wahrheit“ und „normative Richtigkeit“ keine Rolle. „Das heißt, es interessiert nicht, ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierungen dokumentiert“ (Bohnsack 1999,75; Hervorh.i.O.). Mit Hilfe der dokumentarischen Methode soll der Herstellungsprozess von Wirklichkeit, wie er sich im Diskursverlauf zeigt, rekonstruiert werden (wie wird diese Wirklichkeit durch die interagierenden Personen hergestellt?). Im Fokus stehen die in den Erzählungen zum Ausdruck gebrachten Selbstkonstruktionen der Gruppen/Beteiligten.

Bohnsack unterteilt die Interpretation (oder Rekonstruktion) mit der dokumentarischen Methode in vier Analyseschritte:

  1. formulierende Interpretation,
  2. reflektierende Interpretation,
  3. Diskurs- oder Fallbeschreibung und
  4. Typenbildung.

Literatur

  • Behnke, Cornelia/Loos, Peter/Meuser, Michael (1998): Habitualisierte Männlichkeit. Existentielle Hintergründe kollektiver Orientierungen von Männern. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (Hg.): Biografieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung. Opladen: Leske & Budrich.
  • Bohnsack, Ralf (31999): Rekonstruktive Sozialforschung. Opladen: Leske & Budrich.
  • Bohnsack, Ralf (2002): ”Die Ehre des Mannes“. Orientierung am tradierten Habitus zwischen Identifikation und Distanz bei Jugendlichen türkischer Herkunft. In: Kraus, Margret/Marotzki, Winfried (Hg.): Biographische Arbeit. Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Opladen: Leske & Budrich. 117–141.
  • Bohnsack, Ralf (52003): Rekonstruktive Sozialforschung. Opladen: Leske & Budrich.
  • Mannheim, Karl (1964): Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation. In: Mannheim, Karl: Wissenssoziologie. Neuwied. 91–154.
  • Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Przyborski, Aglaja (2004): Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gespächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden: VS-Verlag.

Weiterführende Literatur:

  • Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arnd-Michael (2001): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske & Budrich.
  • Nohl, Arnd-Michael (2006): Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschunspraxis. Wiesbaden: VS-Verlag.

Englischsprachige Literatur:

  • Bohnsack, Ralf; Pfaff, Nicole: Weller, Wivian (Eds.) (2009): Qualitative analysis and documentary method in international educational research, Opladen: Barbara Budrich

Artikel verfasst von Ruth Michalek (2008)

Zitation:

Michalek, Ruth (2008). Dokumentarische Methode. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-auswerten/dokumentarische-methode.html