Qualitativ forschen mit internetbasierten Daten

Internetmaterial erweitert und bereichert die Möglichkeiten, empirisch zu forschen, gerade auch im Bereich qualitativer Sozialforschung, denn das Internet ermöglicht Zugang zu Material in einer Art, wie sie in der qualitativen Forschung gesucht ist. Umgekehrt eignen sich qualitative Verfahren für die Spezifität von Internetdaten, insbesondere von Daten sozialer Medien, besonders gut. In diesem Beitrag möchte ich allgemeine Fragen zu Internetmaterial aus der Perspektive ihrer empirischen Analyse diskutieren, unter Punkt 2 skizziere ich wichtige Punkte und Vorgehensweisen für die qualitative Analyse internetbasierten Materials.

Einführung – qualitative Methoden und Internetmaterial

Internet-Kommunikation und -Material sind so vielfältig, dass es keine allgemeingültigen Regeln für die Arbeit damit gibt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher nur auf einzelne Bereiche und konzentrieren sich auf sogenannte „natürlliche“ Daten, also auf Material, das nicht im Rahmen einer Forschungsfrage erzeugt wurde, wie z.B. Interviews, sondern „schon da“ ist.

Warum eignen sich qualitative Methoden so gut für die Analyse von Internetmaterial? Qualitative Methoden arbeiten überwiegend mit einer induktiven Vorgehensweise, sie gehen „bottom-up“ vor. Das heißt, sie arbeiten ausgehend vom Material, dem Material entsprechend und mit dem, was das Material bietet. Und das heißt, sie arbeiten an Inhalten. Der Fokus ist zuerst einmal die Frage, wie sich ein Sachverhalt zeigt, wie eine Sache „verhandelt“ wird. Damit fokussiert qualitative Forschung z.B. Äußerungen und nicht Personen, die etwas äußern (wobei es in der Regel nicht um explizite Äußerungen, sondern um implizite Bedeutungen geht).

Qualitative Forschung braucht „reiches“, „dichtes“ und variationsreiches Material, also Material, aus dem sich gut etwas herausziehen lässt. Das bietet InternetMaterial, sogar Kommentare und Mikroblogs bieten das. Die vielbeschworene Materialflut ist dabei kein Hindernis. Digitale Kommunikation hat für die Forschung enorme Vorteile, z.B. die Verfügbarkeit vieler Materialien. Die ist manchmal analog nicht möglich oder zumindest aufwändiger. Übrigens eignet sich nicht alles Material für alle Fragestellungen. Insofern darf Verfügbarkeit nicht alleinentscheidend sein. Der Umstand, dass bestimmte Daten leicht zugänglich sind, darf nicht dazu verführen, nicht auch mühsamere Wege zu gehen (in unserem Fall zu Menschen und Material, das sich nicht online präsentiert), denn vieles kann übers Netz nicht erhoben werden. Umgekehrt bedeutet aber gute und einfache Zugänglichkeit nicht, dass die Qualität des Materials schlecht ist. Besonders geeignet und interessant ist die Möglichkeit des Kombinierens und Kontrastierens von Materialien. Besser als alle Medien zuvor gibt das Internet der Multimodalität von Kommunikation einen Raum – es verknüpft eine Vielzahl von Einzelmedien (Film, Bild, Text usw.). Aus Sicht der Forschung haben zudem verschiedene Äußerungsformen gesellschaftlicher Wirklichkeit ihren Platz: Meinungen, Wertorientierungen, Diskurse und Strukturen, Habitus- und Handlungsformen. Grundsätzlich ist die gründliche und offene Dokumentation eines Forschungsprojektes und ihrer einzelnen (Analyse-)Schritte enorm wichtig.

Die Arbeit mit Internetmaterial hat die Möglichkeiten, aber auch die Anforderungen an Verfahren qualitativer Forschung verändert. Der Umgang mit Internetmaterial lenkt den Blick aber auch auf methodische Fragen, die allgemein wieder einmal gestellt werden sollten. Beispielsweise Fragen zur Reaktivität, also der Berücksichtigung des Einflusses auf Äußerungen, Fragen der Materialreduktion und Fragen zu Auswahlstrategien. Oder die Frage, welche Medien und welches Material verwendt werden kann und wann es sinnvoll ist, ein konkretes Forschungsdesign auf eine Materialform zu beschränken. Qualitative Forschung hat viele Mittel, Materialformen und Verfahren zu kombinieren.

Auf die Herausforderungen des Internets, beispielsweise die häufig problematisierte enorme Materialmenge, reagiert Sozialforschung auch mit technischen Lösungsversuchen, z.B. mit automatisierter Datenerfassung und Analyseprozessen. Es gibt „qualitativen“ Programme, die eigenständig Textinhalte mit Techniken der Inhaltsanalyse oder der Sentimentanalyse untersuchen, beispielsweise bei Mikroblogs. Inzwischen integrieren qualitative Analyseprogramme einige dieser Funktionen, genauso wie Anteile quantitativer Analysen. Es entsteht der Eindruck, diese durch Technisierung ermöglichte Masse ist nur mit Technik zu bewältigen, wir seien überhaupt nicht mehr in der Lage, Daten und Inhalte von Menschenhand zu erfassen und zu analysieren. Das Gegenteil ist der Fall! Denken wir doch an die Datenflut – oder genauer: an die Flut möglicher Daten – mit der wir bisher schon konfrontiert sind. Bei der empirischen Analyse von Forschungsfragen haben wir es grundsätzlich mit einer eigentlich nicht zu bewältigenden Flut von Material zu tun, mit einer Unendlichkeit von Äußerungen, Handlungen, Dokumenten und Strukturen, die für die empirische Untersuchung geeignet sind. Was könnten wir nicht alles beobachten, aufzeichnen, erfragen? Ohne eine radikale Fokussierung (man könnte auch sagen, Verengung des Blicks auf einen klein(st)en Ausschnitt) ist empirische Analyse nicht möglich. Wir selektieren, indem wir theoretisch fundiert prüfen oder auch willkürlich auswählen. Bisher kommen wir mehr oder weniger gut mit dieser Situation zurecht – mit dem Internet geht das nicht schlechter. Im Gegenteil, heute haben wir eine wesentlich größere Auswahl gut zugänglichen Materials – wir können also wählerisch(er) sein. Wobei es nicht darum geht, auf technische Hilfsmittel zu verzichten, sondern darum, Forschungsfragen mit den geeigneten Mitteln, dem geeigneten Material und mit geeigneten Verfahren zu untersuchen. „Geeignet“ bezieht sich dabei auf die Beantwortung der Fragen und die Handhabbarkeit der Daten. Dabei führt die Strategie „viel hilft viel“ häufig in die falsche Richtung.

Weiterlesen:

Charakteristiken von Internetmaterial aus methodischer Sicht

Qualitative Analyse von Internetmaterial – die Auswahl

Literatur

  • Marwick, Alice E. Ethnographic and Qualitative Research on Twitter. In: Weller, Katrin/Axel Bruns/Jean Burgess/Merja Mahrt/Cornelius Puschmann (eds.) 2014. Twitter and Society. New York. Peter Lang: 109–121.
  • Schirmer, Dominique 2015: Ehe für Alle – Gleichstellung oder Geschlechterkampf? In: Schirmer, Dominique/Nadine Sander/Andreas Wenninger (Hg.). Die qualitative Analyse internetbasierter Daten: Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien. Wiesbaden. Springer VS: 89-131. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-06296-5_4
  • Seko, Yukari 2013. Picturesque Wounds: A Multimodal Analysis of Self-Injury Photographs on Flickr [50 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(2), Art. 22. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1302229.
  • Welker, Martin/Monika Taddicken/Jan-Hinrik Schmidt/Nikolaus Jackob (Hg.) 2014. Handbuch Online-Forschung. Sozialwissenschaftliche Datengewinnung und -auswertung in digitalen Netzen. Köln. Halem.

Artikel verfasst von Dominique Schirmer (2017)

Zitation:

Schirmer, Dominique (2007). Qualitativ forschen mit internetbasierten Daten. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-erheben/internetbasierte-daten.html