Qualitative Analyse von Internetmaterial – die Auswahl

Wenn wir unser Augenmerk auf die Besonderheiten der qualitativen Analyse von Internetmaterial richten, dann müssen wir uns mit der Auswahl von Material befassen. Zwar spielt die Art der Analysen, die für ein konkretes Projekt in Frage kommen, eine große Rolle beim Auswahlvorgehen: Zielt ein Projekt beispielsweise auf Orientierungsrahmen oder auf Habitusformen und sieht dafür die entsprechenden Analyseverfahren vor, ist dies entscheidend für die Frage, welches Material sich eignet und damit auch, wie bei der Auswahl vorzugehen ist. Die Analyseverfahren selbst unterscheiden sich aber nicht. Deshalb wird im Folgenden die Auswahl von Internetmaterial diskutiert und nicht einzelne Analyseverfahren.

Wie schon angesprochen, gelten Multimedialität und Vernetztheit des Internetmaterials und damit auch die sogenannte „Datenflut“ als problematisch für die (qualitative) Analyse. Nur auf den ersten Blick scheint es nicht möglich, herkömmliche Auswahlverfahren anzuwenden, denn alle qualitativen Auswahlverfahren sind möglich! Wie bei jedem anderen Forschungsplan müssen die Bedingungen stimmen, das heißt, dass das Forschungsmaterial geeignet sein muss, die Forschungsfragen zu behandeln und zu beantworten. Hier sind zwei Fragen zentral: 1. Ist es möglich, Material zu finden, mit dessen Analyse die Felder erreicht werden, auf die ein Forschungsvorhaben zielt? 2. Ist das Material geeignet, die Erhebungsziele zu erreichen, auf die das Forschungsvorhaben zielt?

Es hat sich gezeigt, dass drei Auswahlvorgehen sinnvoll sind. Welches, das ist abhängig von Medienart und Erhebungszielen. Grundsätzlich sind die beiden klassischen qualitativen Erhebungsheuristiken, also Vorgehensweisen, möglich: die selektive Auswahl und die iterative Auswahl, das sogenannte theoretische Sampling. Das dritte Verfahren ist eine Kombination von Auswahlvorgehen, wobei mein Vorschlag ist, nicht nur die beiden gängigen Verfahren zu kombinieren, sondern bei Bedarf auch Verfahren hinzuzuziehen, die üblicherweise nicht in Projekten qualitativer Forschung verwendet werden, zum Beispiel die Wahrscheinlichkeitsauswahl. Die drei Auswahlvorgehen sind somit die iterative Auswahl, das selektive Sampling und die dimensionale Auswahl.

Im Folgenden stelle ich die drei Auswahlheuristiken vor und führe sie an Beispielen aus.

Die selektive Auswahl

Bei der selektiven Auswahl ist zu überlegen, welches Material für die Forschungsfrage geeignet ist und sich darauf zu konzentrieren. Dabei erfolgt die Auswahl sehr konkret. Beispielsweise kann sich ein Forschungsprojekt dafür interessieren, wie sich die Stimmung und die Haltung zu Flüchtlingen in einem Zeitraum verändert (hat). Hier ist es notwendig, sowohl verschiedene Zeitpunkte zu bestimmen, als auch Orte und Felder, auf die Sie Ihre Analyse fokussieren wollen. Interessieren Sie sich für Mediendiskurse, also Äußerungen etablierter Medien? Oder finden Sie es aufschlussreich, sich mit Äußerungen politischer Gruppierungen und ihrem Standpunkt zu befassen? Oder interessieren Sie sich für persönliche Kommentare zu Beiträgen etablierter Medien? Ist die Konzentration auf bestimmte Altersgruppen interessant? Interessieren Sie sich für explizite Äußerungen und sollten deshalb Inhalte suchen, die sich explizit und offen auf ein Thema beziehen oder wollen Sie sehen, ob in Äußerungen und Haltungen implizit vielleicht etwas anderes steckt, als explizit geäußert wird? Hier sollten Sie nicht unbedingt nach Beiträgen suchen, die zu Ihrer Frage verfasst sind, mit der Schwierigkeit, dass Sie eine Strategie entwickeln müssen, solche impliziten Äußerungen zu finden. Ein Vorgehen wäre die Auswahl vier großer Zeitungen und die Bestimmung verschiedener Zeitpunkte, zu denen Sie Kontroversen zu einem Thema erwarten (Angela Merkels „wir schaffen das“, die „Willkommenskultur“, Stichwort „Köln“). Sie könnten beispielsweise Artikel zu denselben Ereignissen auswählen, die alle vier Zeitungen online veröffentlicht haben. Zum Beispiel ist der Unterschied zu klassischen Zeitungen der, dass bei Online-Artikeln mehr Leser*innen zu erwarten sind, die sich der Zeitung nicht unbedingt zuordnen. Aufgrund der Hypertextualität und der Suchmaschinen kommt es eher vor, dass auch Artikel anderer Medien gelesen werden, nicht nur die der vertrauten. Auf der anderen Seite ist der Effekt der sogenannten „Filterblase“ zu berücksichtigen, also die Erfahrung, dass Medieninhalte meist nur im Bereich der „eigenen politischen Weltanschauung“ zur Kenntnis genommen werden. Bleiben wir beim Thema der Haltung zu Flüchtlingen. Auch hier könnten Sie einen Medienartikel als Ausgangspunkt wählen. Sie analysieren den Artikel und ordnen ihn ein. Es ist sehr wichtig, dass Sie das Material, das Sie verwenden, einordnen können. Wie ist die Haltung zum Thema? Handelt es sich um einen besonders positiven Artikel? Welche Standpunkte werden deutlich? Wie sind sie einzuordnen? Handelt es sich um eine Veröffentlichung, die dem linken oder rechten Spektrum zuzuordnen ist? Was könnten weitere oder aber gegenteilige Standpunkte sein und wo wären sie zu finden? Alles, was hilfreich ist, um Aufschluss über Ihre Forschungsfrage zu geben, ist interessant und möglich. Dabei kann es sein, dass Sie – je nach Forschungsziel – bei einem Medium bleiben. Sie können aber auch ganz anderes Material einbeziehen: Initiativen für Flüchtlinge, Angriffe auf Flüchtlingsheime, politische Beschlüsse und Maßnahmen, Mikroblogs oder Blogs, Internetauftritte von Initiativen usw. Wo könnten Äußerungen und Haltungen zu finden sein? Welche Plattformen eignen sich? usw. In der oben erwähnten Studie zur Protestbewegung gegen die Öffnung der Ehe in Frankreich ging es um folgende Fragen: Welche Motivationen, welche Motive, welche Sinnstrukturen stecken hinter der Beteiligung an den Protesten? Ich habe mich einerseits für die angeführten Argumente und andererseits für Beweggründe und Haltungen interessiert. Erstens ist zu beantworten, welche Gründe offiziell genannt und thematisiert werden. Zweitens geht es um die Frage der – gegebenenfalls davon abweichenden – subjektiven Gründe. Die subjektiven Beweggründe der Gegner*innen habe ich über die Analyse von Mikroblogbeiträgen, konkret über Tweets, ermittelt; die offiziellen Gründe über die öffentlichen Auftritte der Protestorganisationen, die in der Protestbewegung eine wichtige Rolle spielten. Während Mikroblogs flüchtige Vertreter der Protestbewegung und ihrer Standpunkte sind, die eher beiläufig, spontan und nicht-reflektiert gemacht werden, zeigen Stellungnahmen Verfestigungen dieses Teildiskurses. Weitere Auswahlkriterien bei den Tweets können die Mikroblogkategorien liefern, also die Art der Tweets. Sie betreffen beispielsweise die Frage, ob eine MikrobloggerIn selbst einen Text verfasst oder ob sie eine Meldung weiterverbreitet hat.

Der Ort der agierenden Personen und Organisationen ergibt sich aus dem thematischen Bezug. Ein wichtiges Kontext-Kriterium für die Auswahl ist außerdem der Zeitraum. Die Entwicklung der Suchkriterien war sehr aufwändig. Auch hier eignet sich die Suche nach Themen und Ereignissen, zu denen Kontroversen zum Thema zu erwarten sind. Außerdem ist hier die Kombination mit quantitativen Analysen interessant; die Häufigkeitsanalyse der Mikroblogs stützt die Bedeutung der theoriebasiert und induktiv ausgewählten Zeitpunkte. Im Zuge der Orientierung im Netz habe ich Medienseiten, Blogs, Facebookseiten, Homepages von Organisationen sowie Tweets beobachtet. Über die Facebook-Seiten bin ich auf die offiziellen Internetauftritte der Protestbewegung gekommen. Im Laufe der Recherche habe ich mich für eine Plattform entschieden, die als Ausgangsbasis für die weitere Auswahl und Analyse dienen sollte: den Internetauftritt der Organisation Demo für Alle. Hier habe ich als zweite Auswahldimension mit der Auswahl des Analysematerials begonnen. Demo für Alle hat sich als Sammelbecken verschiedener Gruppierungen und Personen präsentiert, die gegen das Gesetz zur Öffnung der Ehe aktiv waren und ihr Internetauftritt war eine gute Ausgangsbasis für die Orientierung zu den Gegner*innen. Die weitere Auswahl habe ich zuerst innerhalb dieses Internetauftrittes, also minimal kontrastierend, vorgenommen und bin dort dann maximal kontrastierend vorgegangen, indem ich Organisationen analysiert habe, die möglichst gegensätzlich erschienen.

Die Materialauswahl, die ich über die Arbeit mit den Auswahlheuristiken beschrieben habe, erfüllt immer zwei Aufgaben: Einerseits geht es darum, mögliches Material zu bestimmen und zu reduzieren, um geeignetes Material zu entwickeln und handhabbar zu machen. Andererseits ist die Auswahl, die Materialreduktion, ein zentraler Teil der Analyse, weil sie notwendig ist, das Thema, die Forschungsfragen zu entwickeln und somit das Erreichen eines Forschungzieles überhaupt erst ermöglicht.

Weiterlesen:

Literatur

  • Marwick, Alice E. Ethnographic and Qualitative Research on Twitter. In: Weller, Katrin/Axel Bruns/Jean Burgess/Merja Mahrt/Cornelius Puschmann (eds.) 2014. Twitter and Society. New York. Peter Lang: 109–121.
  • Schirmer, Dominique 2015: Ehe für Alle – Gleichstellung oder Geschlechterkampf? In: Schirmer, Dominique/Nadine Sander/Andreas Wenninger (Hg.). Die qualitative Analyse internetbasierter Daten: Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien. Wiesbaden. Springer VS: 89-131. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-06296-5_4
  • Seko, Yukari 2013. Picturesque Wounds: A Multimodal Analysis of Self-Injury Photographs on Flickr [50 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(2), Art. 22. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1302229.
  • Welker, Martin/Monika Taddicken/Jan-Hinrik Schmidt/Nikolaus Jackob (Hg.) 2014. Handbuch Online-Forschung. Sozialwissenschaftliche Datengewinnung und -auswertung in digitalen Netzen. Köln. Halem.

Artikel verfasst von Dominique Schirmer (2017)

Schirmer, Dominique (2017). Qualitative Analyse von Internetmaterial – die Auswahl.. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. URL https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-erheben/internetbasierte-daten/qualitative-analyse-von-internetmaterial-die-auswahl.html